ST. PETRI-DOM ZU SCHLESWIG

Predigt über Joh 1,14

26. Dezember 2010 von Gerhard Ulrich

Liebe Gemeinde! „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“ (Evangelium nach Johannes, Kapitel 1, Vers 14) Ich schaue das Bild von Friedel Anderson an. Sein „Winterlicht“. "I'm dreaming of a white Christmas". Bing Crosby sang das vor Jahren und traf damit die Wünsche, Sehnsuchtsträume, Glückserwartungen, einer ganzen Welt. I'm dreaming of a white Christmas - so rein, so weich, so glücklich und unsagbar geborgen wie in Kindertagen. Weiß: Farbe der Unschuld, des Anfangs, der Klarheit und Reinheit, unverfälschtes Licht. Ich schaue auf das Bild: Sieht so der Traum von der weißen Weihnacht aus? Ist das die Erfüllung unserer Wünsche, unsere Sehnsucht – die verheißene Herrlichkeit? Sehen wir nicht zugleich das Gegenteil, das Trauma einer ganz realen Schneekatastrophe, wenn draußen gar nichts mehr geht, keine Flüge, keine Züge, wenn alles Leben ausgebremst wird in den weißen Massen, die sich auftürmen auf unseren Wegen und Strassen?

Andere Verse fallen mir ein. Friedrich Hölderlins berühmte Klage:
Weh mir, wo nehm´ ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo 
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

Klirrende Kälte schlägt mir aus Andersons Schneelandschaft entgegen. Ich sehe eine stumme Welt. Hartes, fast gnadenloses Licht zerteilt die grauen Winterwolken. Wie ein Leichentuch bedeckt der Schnee die öde Gegend. Keine Menschenseele, alles Leben scheint verschwunden, ertrunken im Schnee.

Die ganze Härte des Daseins scheint in diesem Bild eingefangen, sozusagen Norddeutscher Realismus pur. Kein schöner Schein spendet Trost. Nackt bist du gekommen, nackt wirst du gehen. Dazwischen fristest Du dein Leben - auf einer kalten Erde und unter einem trüben Himmel.

Ich sehe genauer hin. Da sind Spuren im Schnee. Du bist nicht allein. Du hast Weggefährten. Einer oder eine ist vor dir da gegangen, gestapft. Hat Weg gemacht für dich. Und nichts bleibt, als darauf zu vertrauen, dass die Spuren zu einem Ziel führen, nicht enden im tristen Nichts. Gemeinsam sind wir auf dem Weg! 
In der Ferne fällt ein warmer Lichtschein aus dem Scheunentor des Gehöftes. Wie magisch zieht dieser winzige Lichtfleck mich an, fesselt meinen Blick, zieht mich und meine Gedanken nach vorn, zu ihm hin.

Ein ganz ordinäres Stalltor nur - und doch wirkt es in der Schneewüste wie die geheimnisvolle Tür im Märchen. Die Tür zu einer anderen, freundlicheren, herrlicheren Welt. Voller Wärme und Licht, die Fülle des Lebens und seine ganze Herrlichkeit.

Ein winziger Lichtfleck nur, auf dem Bild kaum größer als ein Quadratzentimeter - und doch ein so starkes, kraftvoll anziehendes Ziel. Wie ein Morgenstern, wie der Stern, dem die Weisen aus dem Morgenlande folgen – unbeirrt. Schon von weitem und aus jeder erdenklichen Richtung ist dieser Lichtfleck im Bild Friedel Andersons zu sehen: Wärmequelle, Ahnung von Leben, Geborgenheit und Schutz.
Eine ganz große, wunderbare, unendlich tröstliche Verheißung in der Kälte.

"Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht. Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst." 
Ist es dieses Propheten-Wort, das ich hier leuchten sehe, in diesem Fleckchen warmen Lichtes? Das Geheimnis von Weihnachten: Das Wort der Verheißung wird Fleisch, mischt sich als Mensch unter Menschen und bringt das Licht, bringt die Wärme, bringt die Herrlichkeit voll Gnade und Wahrheit in die Finsternis und Kälte der Welt. 
Gottes Wort fährt hinein in das Fleisch dieser Welt, reißt es auf zu einer neuen Geburt - und alles Abgelebte, Verdorrte, Tödliche stürzt um, fällt in sich zusammen und ein neuer Himmel und eine neue Erde brechen sich Bahn. So geschieht es in der Heiligen Nacht – denen, die im Dunkeln sitzen.

„Siehe, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde; und der früheren wird man nicht mehr gedenken, und sie werden nicht mehr in den Sinn kommen. … Sondern freuet euch und frohlocket für und für über das, was ich schaffe. Denn siehe, ich wandle Jerusalem in Frohlocken um und sein Volk in Freude. Und … die Stimme des Weinens und die Stimme des Wehgeschreis wird nicht mehr darin gehört werden“. So steht es bei dem Propheten Jesaja im 65. Kapitel.

Das ist das Wort der Verheißung, die Verlockung des Lichtes, dem die Weisen folgen: die Stimme des Weinens und die Stimme des Wehgeschreis wird nicht mehr gehört werden. Keine Risse, keine Wunden, keine Schmerzen mehr. Die große Kälte ist nicht die Wahrheit unseres Daseins in der Welt.Nein, Freude ist es, Herrlichkeit, voller Gnade, Licht und Wärme: „Siehe ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird, denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr.“
Grosse Freude wird angesagt denen, die unter der Welt- und Seelenkälte leiden. Nichts weniger als eine neue Erde, ein neuer Himmel wird angesagt denen, die das Ende erwarten, den Zusammenbruch, das weiße Rauschen. Alles, was ihr mit Trauer anschaut: das Elend, die Zerstörung, das Morden, die Ungerechtigkeit: alles das wird nicht mehr sein! Den Verzagten, den Müden, denen mit wankenden Knien ruft der Prophet, rufen die Engel Gottes Verheißungswort ins Gedächtnis. Damit wir das Fleckchen Licht und die offene Tür nicht übersehen.

Genau hinsehen: Weihnachten verwandelt die Welt. So, wie der Schnee die Umgebung verwandelt. Wie er ja nicht nur stört, sondern auch barmherzig wirkt: entschleunigen tut die weiße Pracht unser Leben. Alles Hetzen nützt nichts. Demut lehrt uns das vielleicht: Wir sind Teil der Schöpfung Gottes, angewiesen darauf, dass nicht aufhören Sommer und Winter, Tag und Nacht, Frost und Hitze. Daran können wir, Gott sei Dank, nichts machen. Aber uns hingeben, das können wir. 
Und noch eine Barmherzigkeit sehe ich: der Schnee legt sich über alles, auch über die unaufgeräumten Ecken meiner Behausung, meines Lebens. Sie verschwinden für eine Weile und alles wird eins. Natürlich: es wird wieder auftauchen alles, was jetzt nicht zu sehen ist. Und wir wissen: es ist da. Aber wir wissen auch: das ist nicht das einzige, was unser Leben bestimmt. Da ist auch die Güte des Bedeckens und der Verwandlung. Da ist noch eine andere Kraft: höher als meine Vernunft.

Indem der Maler die Szene des Gehöfts im oberen Drittel des Bildes ansiedelt, ist es, als gerieten Himmel und Erde zueinander, der Horizont verschwindet. Und der Himmel ist aufgerissen an einer Stelle. Und es ist, als sei die Quelle des Lichtes da oben. Was als kaltes Licht erscheint – es verliert seine Kälte, wenn es auf die Erde trifft. Ein leichter roter Schimmer auf dem Schnee, der das Licht so hart reflektiert, so dass auch die Nacht nicht dunkel ist, deutet auf diese Wärme hin, die ausstrahlt von dem Haus. Das Licht aus der Höhe, das göttliche Licht, es wird warm, wo Gott und Mensch zusammen kommen. Ja, es gibt, Gott sei Dank, eine Wärme in dieser Welt, die unabhängig ist von messbaren Temperaturen draußen! Es gibt ihn, diesen Wärmestrom des Lebens, wie damals von Bethlehem aus. Wo Menschen einander ansehen vorurteilsfrei und neugierig; wo Menschen einander wohl wollen und es sich wohl gefallen lassen, dass da eine Gemeinschaft ist der Liebe und der Zuwendung; wo wir den Fremden aufnehmen; wo Menschen Frieden schaffen und anfangen, aufzuhören mit der Gewalt und mit dem Hass: da wird es warm in aller Kälte. Und hell.

„Freut euch und frohlockt für und für über das, was ich schaffe“, spricht Gott, der Herr, „denn siehe, ich wandle Jerusalem in Frohlocken um und sein Volk in Freude“! 
Weihnachten ist der Blick durch die Tür, der uns gegönnt wird: kein Blick ins Dunkle, auf das, was fehlt und fehlerhaft ist; auf das, was schuldig macht oder was wir schuldig bleiben oder was andere uns schulden: es ist ein Blick in das Licht, auf das, was da ist. Ein Blick auf die wunderbare, oft vergessene Fülle. Auf das, was Gott schafft – was er uns schenkt, geschenkt hat, bereit gestellt hat: an guten Gaben des heilenden und barmherzigen Tuns, an Hoffnung, Liebe und Glaube. An Freiheit und Verantwortungsfähigkeit.

Wunderbar hat Matthias Claudius gedichtet:

Ich danke Gott und freue mich
Wie's Kind zur Weihnachtsgabe,
Dass ich bin, bin! Und dass ich dich,
Schön menschlich Antlitz! habe,

Dass ich die Sonne, Berg und Meer
Und Laub und Gras kann sehen
Und abends unterm Sternenheer
Und lieben Monde gehen,

Und dass mir denn zu Mute ist,
Als wenn wir Kinder kamen
Und sahen, was der heilge Christ
Bescheret hatte, Amen!

Es gerät oft aus dem Blick, dass wir bejaht sind und beschenkt. Trotz allem, was uns ärgert und die Sinne benebelt. Beschenkte sind wir, ausgerüstet mit Gaben, mit Händen, und Mündern, die sich öffnen können, um Hand anzulegen und Stimme zu erheben für die Schwachen und Elenden. Das andere, das richtige Weihnachten: das ansagt den Elenden, dass sie gerettet werden sollen. Gott will verwandeln: nicht die Umstände nur, sondern uns!
„Siehe ich verkündige euch große Freude, die allem Volk wider ahren wird, denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr…“
Das singen die Engel den Hirten ins Herz. Und die sind gelaufen, durch die kalte Nacht, hin zum Licht, zum Stalltor. Und was sie gesehen haben, hat ihr Leben verändert, auf den Kopf gestellt. Nichts blieb mehr, wie es war! Alles wurde neu.
Spuren haben die Hirten gesetzt, Spuren Gottes in der Welt. Wie die Spuren hier im Schnee. Auf die wir uns verlassen dürfen – sie führen nicht in die Irre. Sie führen zu dem, was uns anzieht. Dass wir sehen, was Gott uns verheißen hat, was er uns schenkt.

Von den Heiligen Drei Königen haben wir gehört, dass sie, nachdem sie das Kind gefunden hatten, einen anderen Weg zurück einschlugen, als vom König befohlen. Was sie gesehen hatten, verwandelte ihr Leben und ihr Sinnen und Trachten. Es machte sie unabhängig von den Mächten der Welt. Sie trauten dem verheißenen und erfüllten Wort, das da Fleisch geworden war.
Und das ist es doch, liebe Schwestern und Brüder, wozu das Licht uns lockt – nicht nur zur Weihnachtszeit. Gottes Verwandlung annehmen und weitergeben an die, die im Finstern sitzen.

„Siehe ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird, denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr…“
Im Stall von Bethlehem kommt Gott uns Menschen ganz nahe, damit auch wir uns nahe kommen und nahe sein können. Der Stall von Bethlehem – das kann das Gehöft in der Nachbarschaft sein oder das Haus nebenan. „Das Bild war schon da – wie jedes Bild schon da ist und nur wartet, gesehen zu werden“, sagt Friedel Anderson zu seinem „Winterlicht“.

Sehen wir das Licht! Mitten im kalten Winter.
 Amen.

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