Predigt von Landesbischof Dr. Andreas von Maltzahn im Gottesdienst am 3. Oktober 2007 im Dom zu Schwerin
03. Oktober 2007
„Jesus erzählte ihnen ein Gleichnis und sagte: Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Senfkorn, das ein Mensch auf seinen Acker säte. Es ist das kleinste von allen Samenkörnern; sobald es aber hoch gewachsen ist, so ist es größer als die anderen Gewächse und wird zu einem Baum, so dass die Vögel des Himmels kommen und in seinen Zweigen nisten.“ (Matthäus 13,31f
Liebe Schwestern und Brüder hier im Schweriner Dom, liebe Menschen überall im Land! Wie Gott seine Wirklichkeit in unserem Alltag zum Wachsen bringt, davon haben wir in der Lesung gerade gehört. Winzig wie ein Senfkorn beginnt das Reich Gottes. Es ist leicht zu übersehen. Aber da, wo es auf fruchtbaren Boden fällt, wächst es, dass wir staunen. Es ermöglicht Leben in Freude, Vielfalt und Geborgenheit – wie bei den Vögeln, die in den Zweigen des Baumes nisten, der einmal ein bloßes Senfkorn war.
Wo gibt es solch unscheinbare Samen der Wirklichkeit Gottes in unserer Welt? Wir finden sie dort, wo Menschen sich versöhnen, wo sie lieben, Freude und Trost spenden . . . Einige Beispiele haben wir eben in den kurzen Gesprächen gehört. Nun aber, wo liegen solche Samenkörner der Hoffnung in unserem Gemeinwesen, unserer Gesellschaft? Und warten darauf, dass sie gedeihen?
Ich habe sie dort gefunden, wo man sie zunächst einmal gar nicht vermutet – in unserem Grundgesetz! Erstaunliche Sätze sind da zu lesen:
• „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
• „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit . . .“
Artikel voller Zündstoff sind hier zu finden!
• „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen.“
• „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“
Oder nehmen wir solche Grundsätze unserer Verfassung:
• „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe . . . geschützt.“
• „Handlungen, die geeignet sind . . . , das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, . . . sind unter Strafe zu stellen.“
Es ist unser deutsches Grundgesetz, das diese „Senfkörner“ birgt – „Senfkörner“ der Wirklichkeit, wie Gott sie im Sinn hat. Zukunftssaat, die gedeihen soll auch durch uns.
Schwestern und Brüder, von dreien dieser Hoffnungsgüter will ich reden. Zuerst von der unantastbaren Würde einer jeden, eines jeden von uns. Da klingt etwas an von der Einzigartigkeit jedes Menschen, seiner inneren Schönheit und Bedeutsamkeit. Etwas, das meilenweit davon entfernt ist, uns auf einen Nutzwert zu beschränken oder als Kostenfaktor zu sehen.
„Etwas von Gott ist in uns“, sagt die Bibel, „in Dir und in mir. Das je eigene Bild, das Gott von jeder und jedem entworfen hat – dieses göttliche Bild tragen wir in uns. Es will zur Entfaltung kommen, soll Gestalt gewinnen in unserem Leben.“
Manchmal fällt es schwer, solche Kostbarkeit und Größe von Gott her im eigenen Innern für möglich zu halten. Gerade dann ist es wichtig, sich von außen sagen zu lassen, was tatsächlich wahr ist. Es sich beispielsweise von dem Südafrikaner Nelson Mandela sagen zu lassen. Lange Jahre hatte er in Haft gesessen. Trotzdem kommt er zu der erstaunlichen Überzeugung:
„Du bist ein Kind Gottes.
Dich selbst klein zu halten, dient nicht der Welt. . .
Wir sind geboren worden, um den Glanz Gottes, der in uns ist, zu manifestieren.“
Und weiter sagt Mandela:
„Er ist nicht nur in einigen von uns, er ist in jedem einzelnen.
Und wenn wir unser eigenes Licht erscheinen lassen, geben wir unbewusst anderen Menschen die Erlaubnis, dasselbe zu tun.“
Chorgesang: Kanon zur Jahreslosung
Schwestern und Brüder, frei soll sich unsere Persönlichkeit entfalten. Das von Gott in uns, das, womit er uns begabt, will und soll wachsen und seiner Bestimmung gerecht werden. Das ist der zweite Gedanke unseres Grundgesetzes, den ich hervorheben möchte, das zweite „Senfkorn“, das wachsen und gedeihen will.
Was aber, wenn behindert wird, was unsere Verfassung als Grundrecht sieht? Wenn Armut Bildungschancen verbaut und so die Entfaltung der Persönlichkeit blockiert? Es ist ein Skandal, dass in unserem immer noch reichen Land jedes fünfte Kind in Armut lebt! Und die Zahl wächst! Es kann uns nicht ruhen lassen, wenn ein Viertel aller fünfzehnjährigen Schülerinnen und Schüler innerlich schon aufgegeben hat und sich als Verlierer erlebt!
Das darf uns nicht ruhen lassen – die Politik nicht, die Lehrerschaft ebenso wenig wie Kirchen und Verbände, die mit den Heranwachsenden arbeiten. Und auch wir als Eltern, als Verwandte und Nachbarn sind gefordert. Sie leben mitten unter uns – junge Menschen, die darauf angewiesen sind, dass wir achtsam wahrnehmen, was ihnen an Zuneigung und Anregungen fehlt. Tun wir das Unsere dazu, dass eines Tages wirklich allen die freie Entfaltung der Persönlichkeit ermöglicht ist!
Schwestern und Brüder, auch das gehört zu unserer gottgegebenen Würde: die Fähigkeit, solidarisch zu leben. Wir sind nicht dazu verurteilt, in egozentrischer Gefangenschaft zu verkümmern. Das „Senfkorn“ Geschwisterlichkeit in uns will wachsen und Frucht tragen – ‚Frucht’ auch in materieller Hinsicht. Unser Grundgesetz, auf das wir stolz sein können, sagt nüchtern und wünschenswert klar:
„Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen.“
Da werden Erfolg und Gewinn nicht madig gemacht. Wohl aber wird erinnert an soziale Verantwortung. Gott steht dort auf unserer Seite, wo wir für Gerechtigkeit einstehen. Ja, mehr noch: Wo Menschen sich auf die Seite der Benachteiligten ziehen lassen, da kommen sie in Berührung mit dem Grund allen Lebens. Das ist meine Erfahrung. Wie viele Menschen erzählen mir, dass sich ihr Leben verwandelt hat, als sie nicht mehr immer nur um sich selbst kreisten. Wie es sie erfüllt und beglückt, für andere da zu sein! Endlich spüren sie Sinn in ihrem Leben.
Darum: Seien wir stolz, dass wir der Liebe, der Freundschaft, der Solidarität, des Mitgefühls und der Toleranz fähig sind! Befreien wir diese grundlegenden Dimensionen unseres Menschseins aus der Nische des Privaten. Lassen wir sie die inneren Wärmeströme unserer Gesellschaft werden!
Über drei Samenkörner der Wirklichkeit, wie Gott sie im Sinn hat, habe ich gesprochen. Und zu finden sind sie in unserer Verfassung! In ihnen leuchtet etwas auf von unserer Einzigartigkeit als Töchter und Söhne Gottes:
• unsere Würde: die wir haben, weil wir angesehen sind von Gott,
• unsere Freiheit als Gotteskinder, dass wir uns entfalten können – alle, endlich!
• und unsere Freude darüber, in der Welt nicht allein zu sein, sondern miteinander verbunden durch den Grund des Lebens.
Amen