Predigt zu 1. Mose 28, 10-19 am 8. September 2007 im Schweriner Dom
08. September 2007
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. AMEN.
Liebe Gemeinde,
Sein junges Leben lang war er ein ziemlich verzweifelter Glückssucher:
• vom Vater nicht geliebt, wo doch alles in seiner Welt von den Vätern abhing,
• von der Mutterliebe eher erdrückt als geborgen.
Äußerlich war Jakob erwachsen, durchsetzungsfähig, aber in seinem Innern – da blieb er unsicher und klein. Das Erstgeburtsrecht und den väterlichen Segen hatte er seinem Bruder abgeluchst. Doch jetzt, jetzt ist er auf der Flucht – schwankend zwischen Verzagtheit und Grandiosität.
„Aber Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen. Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. Und der HERR stand oben darauf und sprach: Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden. Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.
Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: Fürwahr, der HERR ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht! Und er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels. Und Jakob stand früh am Morgen auf und nahm den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte, und richtete ihn auf zu einem Steinmal und goss Öl oben darauf und nannte die Stätte Bethel; vorher aber hieß die Stadt Lus.
Schwestern und Brüder, unverhofft begegnet Jakob Gott. An irgendeinem öden Ort, den die hereinbrechende Dunkelheit als Nachtlager nahelegt, zeigt sich überraschend der Lebendige – so wie er sich auch heute oft genug unverhofft bemerkbar macht und Leben verwandelt:
• So kam kurz nach der friedlichen Revolution ein Mädchen in unser Pfarrhaus, vielleicht 9 oder 10 Jahre alt, und erklärte entschlossen: „Ich will getauft werden!“ Ihre Eltern, bis vor kurzem Genossen, verstanden die Welt nicht mehr. Das Kind hatte einfach eine Kinderbibel gelesen, und nun glaubte es und setzte seinen Taufwunsch bei den Eltern durch.
• Oder ich denke an die einfache Frau, die über Umwege in unseren Kurs „Glaube zum Kennenlernen“ geriet: Ohne jede Berührung mit Kirche oder Gott zuvor überlebt sie einen Unfall. Die seelischen Erfahrungen, die sie dabei macht, kann sie nicht einordnen. So kommt sie in die Gemeinde und findet zu Gott.
Unverhofft öffnet sich der Himmel, eröffnet sich Gott – wie bei Jakob einst.
Wirklich unverhofft?
Gut möglich, dass Jakob, der Glücksucher, doch nicht absichtslos die Nähe des Steins sucht und ihn sich „zu seinen Häupten“ legt. Als Kopfkissen gab es sicher Bequemeres. Von einem Freund weiß ich: Bei den frühen Völkern Nordamerikas – in ihrer Lebensform verwandt mit den Jakobs-Leuten – gab es den Brauch: Wenn ein junger Mann auf „Traumsuche“ geht, auf „Visionssuche“, um seinen Namen, seine Lebensbestimmung zu finden, dann geht er – wie die Dakotas sagen – „zu den Großvätern“: an Orte, wo große Steine unter dem Gras liegen, Steine, an die er sich legt. . .
Steine sind nicht wie das Leben der Menschen – nicht wie Gras, das bald verdorrt. Steine sind Zeugen ‚erweiterter’ Zeit: alle Erfahrung geschichtlichen Lebens von urher und urhin umspannend. Und aus ihr, dieser ‚anderen’, unsere Horizonte sprengenden Zeit, aus dieser ‚Hintergrund-Zeit’ kommt dem Traumsucher zu, was er sucht.
So geht es Jakob. Ihm träumt von einer Wirklichkeit, die noch nicht ist. Und doch ist sie wirklich als die geheime Bestimmung der Zeit.
Wovon träumt uns, wenn wir in die Zukunft fragen?
Dem Jakob träumt von einer Leiter, die von der Erde „mit ihrem Haupt an den Himmel“ rührt:
• Es ist nicht die Träumerei vom Himmel auf Erden, aber immerhin eine Brücke, die verbindet, was getrennt ist
• eine Leiter – Verbindung und Entgrenzung zugleich,
• eine Leiter, nicht selbstgemacht wie der Turm zu Babel, der ja ebenfalls „mit seinem Haupt bis an den Himmel“ reichen sollte.
Hierauf kommt nun alles an – zu verstehen, dass die Himmelsleiter der genaue Gegenentwurf zum Turmbau zu Babylon ist:
• himmlisches Geschenk, nicht der angstgetriebene menschliche Versuch, sich einen Namen zu machen und sich so seiner selbst zu vergewissern.
• Nicht ‚Leiter der Tugenden’ des Aufstiegs zur Vollkommenheit ist die Himmelsleiter, sondern segnende Überbrückung voller Verheißung,
• nichts, was man ‚haben’ könnte ein für allemal, aber einen glücklichen Moment lang – der lebendige Gott selbst, der verspricht:
„Siehe,
ich bin mit dir und will dich behüten,
wo du hinziehst…
Denn ich will dich nicht verlassen,
bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.“ (Gen 28,15)
Gott ist mit auf dem Weg – mit Jakob, mit Israel, unserem Brudervolk im Glauben, und in der Folge auch mit uns.
So beginnt sich unsere Geschichte zu erschließen:
• der Symbolsinn der Leiter: das Evangelium,
• der Symbolsinn des Turmes: der Mensch, der wähnt, etwas aus sich machen zu müssen, und schließlich
• der Symbolsinn des Steines: die Kirche.
Traumsuchers Stein – die Kirche?
Menschen, die unsere schönen Kirchen besuchen, nehmen das mitunter unverfälschter wahr als wir, die hier oft eher gewohnheitsmäßig ein- und ausgehen:
• wenn diese Menschen in die durchbeteten Räume treten und ein verlässliches Außen als Gegenüber finden,
• ein Haus, „das die Träume verwaltet“ – die Träume von Würde und Gerechtigkeit,
• einen Ort, wo Menschen seit Jahrhunderten „getröstet werden und wo sie die Hoffnung lernen; die Kirche als ein Ort der Geschichten von der Zuneigung Gottes“, wie Fulbert Steffensky formuliert.
Wovon träumt uns, wenn wir in die Zukunft fragen?
Schwestern und Brüder,
mir träumt von einer Kirche, die mit wachsender Hingabe zu leben sucht, was ihre ureigenste Sache ist – „Pforten zum Himmel“ zu erschließen, Pforten zur Wirklichkeit Gottes. Diese Wirklichkeit ist zwar unverfügbar, aber nicht unzugänglich.
Für mich heißt das: Werden wir mutiger, spirituelle Erfahrungen zu ermöglichen! Es gibt viel Wichtiges im Leben unserer Gemeinden, viel Richtiges, was in unseren Gottesdiensten gesagt wird. Aber wenn wir einmal zurückdenken und uns fragen, was unser Christsein wirklich geprägt hat, dann waren es wohl vor allem Erlebnisse, die uns auf dem Grund unserer Seele berührt haben. Überspitzt gesagt: Nicht reine Lehre, sondern lebendige Erfahrung nährt.
Anderen Menschen geistliche Erfahrungen zu ermöglichen setzt allerdings unsere eigene ‚Unfertigkeit’ mit Gott voraus. Paul Tillich war überzeugt, „dass ein großer Teil des Widerstandes gegen das Christentum daher rührt, dass die Christen, offen oder versteckt, den Anspruch erheben, Gott zu besitzen und daher das Element der Erwartung verloren haben, das so entscheidend für die Propheten und Apostel ist.“
Nicht ‚fertig’ zu sein mit Gott, gespannt den Christus neu zu entdecken, wie er sich zeigen will in den Menschen, mit denen wir leben, auch regelmäßig Zeiten zu haben, wo man oder frau sich dem dreieinigen Gott hinhalten kann und ganz gegenwärtig ist – in solcher Offenheit bleibt die Beziehung zu Gott lebendig. Solche Lebendigkeit befähigt uns, andere auf ihrem inneren Weg gut zu begleiten.
Liebe Gemeinde, ich träume auch von einer Kirche, in der Menschen zu ihrer Identität finden. In meiner Kindheit und Jugend war das vergleichsweise einfach: Kirche war die Gegenwelt zum System. Hier erwachte das Denken, konnte das freie Wort gewagt werden. Ich werde nicht vergessen, wie beflügelt ich abends vom Schülerkreis nach Hause ging, weil uns die Welt der echten Philosophie einen Spalt breit geöffnet wurde. Oder die Abendkonzerte der Chorwanderung in kleinen Dorfkirchen, wo Menschen mit Tränen des Glücks uns vielen Jugendlichen lauschten und wo die Ahnung eines Rufes manche von uns anrührte. . . Baumpflanzaktionen, Bemühungen um einen Sozialen Friedensdienst – Glaube und politische Existenz waren damals zwei Seiten einer Medaille. Was mir wichtig wurde für mein Leben, habe ich in großer Vielfalt im Raum der Kirche erlebt.
Und heute, wo kein atheistisches System das Wir-Gefühl stärkt, wo sich für jedes gesellschaftliche Problem frei Initiativen bilden können – wie kann Kirche heute der gute Ort sein, wo Menschen zu sich selbst und ihrer Bestimmung finden?
Vielleicht sind unsere Aufgaben heute grundsätzlicher: zum Beispiel, Menschen zu befreien von dem Wahn, sie müssten ihres Glückes Schmied sein. Das ist ja dieses neuzeitliche Joch, der ‚Turmbauer’-Glaube, alle Erfüllung unseres Lebens müsse erst noch ‚gemacht’ werden. Dagegen steht Gottes Geist auf und bezeugt, „dass wir Gottes Kinder sind“, wie Paulus den Römern schreibt. „Wir beginnen unsere Suche nach Gott nicht als Suchende, sondern als schon Gefundene“, sagt Dorothee Sölle. Das Entscheidende ist schon längst da. Es will einfach wahr genommen und gelebt werden: Söhne und Töchter Gottes sind wir, müssen unser Lebensrecht nicht erst durch Taten erringen!
Solches Glück bejubelt Matthias Claudius in seinem Gedicht
„Täglich zu singen
Ich danke Gott und freue mich
Wie's Kind zur Weihnachtsgabe,
Dass ich bin, bin! Und dass ich dich,
Schön menschlich Antlitz! habe;
Dass ich die Sonne, Berg und Meer,
Und Laub und Gras kann sehen,
Und abends unterm Sternenheer
Und lieben Monde gehen;
. . .
Gott gebe mir nur jeden Tag,
Soviel ich darf zum Leben.
Er gibt's dem Sperling auf dem Dach;
Wie sollt er's mir nicht geben!“
Schwestern und Brüder, welche Glückseligkeit, welche Befreiung, uns und unser Leben nicht selbst rechtfertigen zu müssen!
Aber wahr ist auch: die Töchter und Söhne Gottes verdienten ihren Namen nicht, wenn sie sich auf eine Insel der Seligen zurückziehen wollten. So hat Kirche als identitätsstiftende Gemeinschaft auch
„die politisch-spirituelle Grundaufgabe, die Geschichten und Bilder von der Würde des Menschen (zu überliefern)“, wie von Fulbert Steffensky zu lernen ist. „Dass das Leben kostbar ist, dass Gott es liebt, dass niemand die Zukunft versperren soll, dass wir zur Freiheit berufen sind, dass die Armen die ersten Adressaten des Evangeliums sind – das sagt, singt und spielt uns die christlich-jüdische Tradition in vielen Geschichten und Bildern vor. . . Das Evangelium baut unsere Träume von der Gerechtigkeit, es baut unser Gewissen. . . Erinnerung an die Träume und Erinnerung an die Opfer – das schuldet die Kirche sich selber und einer traumlosen Gesellschaft.“
Traumsuchers Stein – die Kirche . . .
Wovon träumt uns, wenn wir in die Zukunft fragen?
Ich wünsche mir unsere Kirche offen für die neuen Herausforderungen, die Gott uns stellt. „Anhänger des neuen Weges“ – das war einmal ein ‚Markenname’ für Christen!
Viele Menschen haben Gott heute so sehr vergessen, dass sie ihn nicht einmal ignorieren müssen. Welche Wege finden wir zu diesen Menschen? Indem wir aufmerksam wahr nehmen, was sie bewegt, und indem wir neu auf Gott hören.
Auch hier ist mir wichtig – ‚Himmelsleiter’ statt ‚Turmbau’! Widerstehen wir der Versuchung, die Wachstum durch Perfektionierung verspricht! Nicht alles, was sich „Kirche der Freiheit“ nennt, ist aus dem Geist der Freiheit geboren . . . Das rettend Neue will ersehnt, erbeten – und erst dann auch erarbeitet sein.
Mir ist bewusst, in manchen Gemeinden wird die Neigung zu neuen Wegen nicht sonderlich groß sein. Denn für viele ist das Altvertraute ein unentbehrlicher Halt. Deshalb soll unsere Kirche ja in wesentlichen Teilen sein wie der Stein, an den sich der schlafende Jakob lehnt:
gelassen, in Ruhe, verlässlich, konkret . . .
schweigend, wissend, träumend . . . ,
ohne Angst, sich nicht schützend, Schutz gebend und Halt . . .
wärmend noch in der Kühle; kühlend noch in der Hitze . . .
ganz und gar – unaufgeregt . . .
Bei allem Guten des Bewährt-Vertrauten – wir können gar nicht anders, als die Liebe Gottes heute neu in unsere Zeit hinein zu sagen und zu leben. Und wo die Zeit noch nicht reif ist für fällige Erneuerung, da halten wir es getrost mit Schleiermacher:
„Was noch nicht sein kann, muss wenigstens im Werden bleiben.“
Auch das hat seine eigene Würde – Platzhalter zu sein für die Möglichkeiten kommender Zeiten
Das Schöne ist: Vieles von dem, was mir am Herzen liegt, lebt schon in unserer Kirche:
• Menschen spirituelle Erfahrungen zu ermöglichen,
• Kirche als identitätsstiftende Gemeinschaft zu leben und
• sich neuen Herausforderungen zu öffnen –
all das ist unter uns längst im Gange. Gott sei Dank!
Als Jakob erwachte von seinem Traum, war ihm die Himmelsleiter ganz gegenwärtig. Gesegnet zog er seines Weges. Damit wurde für ihn jedoch nicht einfach alles gut: Er sollte noch Vergeblichkeit erfahren – sieben Jahre diente er, ohne sein Ziel zu erreichen. Ein hartes Ringen mit Gott stand ihm noch bevor. Doch der unsichere Jakob war in jener Nacht träumend ein Mensch der Verheißung geworden – einer Verheißung, die auch über unserem Weg steht:
„Siehe,
ich bin mit dir und will dich behüten,
wo du hinziehst…
Denn ich will dich nicht verlassen,
bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.“ (Gen 28,15)
AMEN.