Predigt zu Jes 2,1-5 anlässlich der Einweihung „Haus der Stille Bellin“
20. August 2011
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.
Liebe Festgemeinde!
Ein Traum, seit langem geträumt, wird Wirklichkeit: Das alte Belliner Pfarrhaus ist zum „Haus der Stille“ geworden. Verschiedene Anläufe über Jahrzehnte hinweg schienen vergeblich zu sein. Kirchgemeinde und Landeskirche sahen sich nicht in der Lage, das baufällige Haus zu halten. Doch die beharrliche Hoffnung einiger weniger, die die geistliche Kraft dieses Ensembles aus Kirche, ehemaligem Pfarrhaus und Natur für uns alle fruchtbar machen wollten, hat Berge versetzt. Gott hat Eurem Bemühen, die Ihr Jahr um Jahr gebetet, geplant und gebaut habt, seinen Segen geschenkt. Dafür sind wir dankbar.
Einen besonderen Ort der Einkehr haben wir nun im Herzen Mecklenburgs. In einer Zeit zunehmender Arbeitsverdichtung und wachsender Zwänge, mit immer weniger Mitteln immer noch mehr zu erreichen, stehen wir in der Gefahr, nur noch zu ‚funktionieren’. Das äußere Leben in Familie und Beruf verlangt alle Kraft. Das innere Leben kommt häufig zu kurz. Wir brauchen Freiräume, um wieder selbst zur Quelle zu gehen. Wir brauchen Zeiten und Orte, uns unterbrechen zu lassen, innezuhalten. Das Haus der Stille Bellin ist ein solcher Freiraum. Ein Ort, wo die Tiefendimension des Lebens Raum gewinnt. Ein Ort, an dem Menschen zu sich selber finden können, weil sie sich an Gott verlieren. Ein Freiraum, auf die Suche zu gehen, da wir schon gefunden sind.
Vom Sichverankern in Gott redet auf ihre Weise auch diese Verheißung aus dem Buch des Propheten Jesaja:
Dies ist's, was Jesaja, der Sohn des Amoz, geschaut hat über Juda und Jerusalem:
Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des HERRN Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben, und alle Heiden 2 werden herzulaufen, und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns auf den Berg des HERRN gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem.
Und er wird richten unter den Heiden und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.
Kommt nun, ihr vom Hause Jakob, lasst uns wandeln im Licht des HERRN!
(Jes 2,1-5)
„Schwerter zu Pflugscharen“ – das weckt sofort Erinnerungen: An Blütezeiten der Friedensbewegung, wo Aufnäher mit diesem Motto zum Erkennungszeichen der Opposition in der DDR wurden. Jugendliche, die diese Losung trugen, flogen von der Schule oder wurden den Staatsorganen „zugeführt“. Welch eine Kraft in dieser entwaffnenden Wahrheit: Schwerter zu Pflugscharen, Todwerkzeuge zu Brotwerkzeugen! Nichts anderes will Gott – und verheißt: Es wird geschehen.
Und dann, als die Aufnäher verboten waren, tauchten neue auf, ähnlich gestaltet, und forderten: „Schwert-Fische zu Flug-Enten“.
Schwestern und Brüder, so unmittelbar es uns anspricht, dies ‚Schwerter zu Pflugscharen’, so kostbar und unabgegolten es ist: Es kommt vom Zion her! Der ist nicht geografisch, aber in seiner Bedeutung höher als alle Berge. Und er wankt nicht, wackelt nicht, wie die Götzen wackeln. Er steht fest. Im Gewoge des Zeitgeschehens wird er Halt und Orientierung gewähren. Ganze Völker werden kommen und an diesem Ort von Gott lernen wollen – lernen, was dem Leben dient. Zion, der Berg Gottes: Anders als in Psalm 48 ist er nicht die Trutzburg, an der die heranstürmenden Völker scheitern. In der Verheißung Jesajas kommen die Völker friedlich herzu, angezogen, angelockt durch das, was sie suchen und hier finden können: Gottes Weisung. Kein Kampf der Kulturen, sondern ein Lernprozess – gegründet in Gott: Kommt, lasst uns auf den Berg des HERRN gehen, 3 zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem.
Wie hören wir diesen Text in einer Zeit eruptiver Gewalt in England, Syrien, Norwegen und anderswo? Angesichts abstürzender Börsenkurse, verheerender Hungersnot und haarsträubender Rüstung – wo sind die lernwilligen Völker, die sich von Gott den Weg weisen lassen? Entwurzelung und Orientierungslosigkeit, wo man auch hinschaut, jede Nachrichtensendung ein Entmutigungsprogramm. Das eigentliche Problem sagt denn auch Stéphane Hessel, der große alte Mann der Résistance und Mitverfasser der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, das eigentliche Problem ist die Überwindung der Hoffnungslosigkeit. Ja, unsere Erde wird auch von der Resignation bedroht: „Zu spät, alles verbockt, nichts mehr zu machen, wir sind verloren.“ Dieses Grundgefühl breitet sich aus und geht um in Ratlosigkeit, Lähmung und Hektik, in Klage und Anklage: ‚Tut was!’ – ‚Was tun?’ . . .
Darum noch einmal gefragt: Wie wollen wir die Verheißung Jesajas heute, in dieser Zeit großer Verwirrung für uns gelten lassen? Und kann das Haus der Stille Bellin uns helfen, das auch zu leben, was gilt?
Das erste ist: Wir schwimmen nicht, wir haben festen Grund. Wo immer wir sind, wohin immer wir streben: Vom Zion geht die Weisung aus, die unser Leben befreit und bestimmt – auch in der Norddeutschen Tiefebene! Das lässt uns anders in die Welt und auf uns selber sehen. Ein Perspektivenwechsel ist möglich. Umkehr ist möglich – Umkehr, die aus Einkehr erwächst. Wir können uns Gott zuwenden und von ihm Orientierung erwarten. Und das heißt eben nicht, kurzschlüssig die Frage nach dem Tun zu stellen, sondern bei Gott zu erfahren, wer wir sind. Da haben wir vorhin gehört: Ihr seid das Salz der Erde. Ihr seid das Licht der Welt! Wohlgemerkt kein Imperativ, kein Aufruf, sondern Zusage: Ihr seid es.
Ich kann das nur mit ungläubigem Staunen aussprechen. Salz der Erde, Licht der Welt? Ich kenne doch meine Kraftlosigkeiten. Ich weiß doch um das Dunkel in mir. Und doch soll da etwas sein in mir, in uns allen, was diese großen Worte verdient – Salz der Erde, Licht der Welt. Etwas von Gott in mir, in uns; Christus in uns und wir in ihm – und ich spüre: Wo es uns gelingt, zu diesem Teil unseres Seins vorzudringen, ihn zu berühren und zu erschließen, da wird unser Leben neu, verwandelt es sich, wird stark und lebendig. Da ist eine Kraft in uns – nicht aus eigener Stärke – eine Kraft, die wichtig sein kann auch für die Menschen, die mit uns leben, für die wir mit verantwortlich sind. Da ist ein Leuchten, unscheinbar zwar, aber intensiv, und es vertreibt die Schatten des Todes, bringt Licht ins Dunkel.
An Orten wie Bellin können wir wieder lernen, Zugang zu gewinnen zu dieser Tiefenschicht unseres Seins. Verortet in Gott, herausgenommen aus der Betriebsamkeit unserer Tage und der Rastlosigkeit unserer Gedanken werden wir neu dessen inne, was unseres Lebens Quelle ist. In einem anonymen Brief aus dem 15.Jahrhunderts heißt es:
O tiefer Schatz, wie wirst du ausgegraben?
O hoher Adel, wer kann dich erreichen?
O quellender Bronnen, wer kann dich erschöpfen?
O lichter Glanz, ausdringende Kraft,
bloße Verborgenheit, verborgene Sicherheit,
sichere Zuversicht, ein’ge Stille in allen Dingen,
mannigfaltiges Gut in einiger Stille,
du stilles Geschrei, dich kann niemand finden,
der dich nicht zu lassen weiß.
Nicht nur die Sphäre der Tat gilt es von Zeit zu Zeit hinter sich zu lassen, auch unsere religiösen Zielvorstellungen. Mystiker aller Religionen haben die paradoxe Erfahrung gemacht: Wer meditierend alle Absichten, Zwecke und Ziele gelassen hat – auch die Intention, Gott zu begegnen – wer all dies lassen konnte, dem kann es geschenkt sein, ein unbeschreibliches Einssein zu erleben, faszinierend und erschreckend, beglückend und erschütternd.
Doch der mystische Weg ist damit nicht am Ziel. Zu Gott und sich selbst zu finden, ist nur eine Zwischenstation. Der Durchbruch zur Welt, wie Meister Eckart den nächsten Schritt nennt, steht noch aus: Es gilt, sich dem Leben und der Verantwortung für die Welt zuzuwenden – in neuer Weise zuzuwenden, weil gestärkt und inspiriert von dem, was man in der Begegnung mit Gott erfahren hat: Dass den Armen Gerechtigkeit widerfährt, es hat seinen Hoffnungsgrund in Gott, dessen Name Gerechtigkeit ist. Dass wir achtsamer mit der Schöpfung leben lernen, diese Fähigkeit wird gespeist aus Gottes überschwänglicher Liebe zum Leben! Wir werden tun, was dem Leben dient, weil Gottes Schalom unsere Herzen erfüllt.
Es wird geschehen, sagt Gott, und zwar nicht irgendwann, sondern – wörtlich übersetzt – auf der Rückseite der Tage. Da, wo wir nicht mehr Sklaven des Chronos, der gefräßig-geschäftigen Zeit sind, da, wo wir im Kairos der uns geschenkten Zeit das Wesentliche zulassen oder ergreifen, da wird es geschehen. Der Ort Gottes wird fest stehen. Halt und Orientierung werden von ihm ausgehen. Menschen werden Zutrauen gewinnen zu dem, was sie durch Gott sind – Salz der Erde, Licht der Welt. So werden sie lernen, aus diesem Sein zu leben und Verantwortung wahrzunehmen.
Möge das Haus der Stille Bellin darin gesegnet sein, uns zu helfen, das Wirken Gottes unter uns wahrzunehmen und ihm in unserem Leben Raum zu geben! Darum, weil es Gott sei Dank nicht nur auf uns ankommt, lasst uns frohen Mutes Bäume pflanzen, Familien gründen, die Freiheit verteidigen, die Schöpfung hüten, Jugendlichen eine Perspektive geben und auch dafür eintreten, dass der Markt des wild gewordenen Geldes gebändigt wird, so dass er wieder der Realwirtschaft dient! Weil es Gott sei Dank auch auf uns ankommt, lasst uns die Demokratie stärken; uns das Hungern und Dürsten nach der Gerechtigkeit nicht abkaufen lassen; lasst uns Gefangene besuchen und Hungrige speisen, sanftmütig und widerständig, friedensfähig und bereit zur notwendigen Auseinandersetzung – mit einem Wort: Lasst uns wandeln im Licht des Herrn. Nicht irgendwann, heute ist die Zeit, jetzt ist der Tag des Heils. So ernst und so schön ist unser Leben.
Amen. Und der Friede . . .