Predigt zur Einführung am 8. November 2008 im St. Petri-Dom Schleswig. Ezechiel 47,1 – 12
08. November 2008
Liebe Gemeinde! „Steh auf und iss!“ – so spricht der Engel zu Elia. Es ist genug, Herr, ich bin auch nicht besser als meine Väter, hatte Elia gesagt. - Nein, es ist noch lange nicht genug: Steh auf und iss!
Es sind immer wieder dieselben Geschichten aus der Bibel, auf die ich stoße im Laufe unseres Lebens. Die Elia-Geschichte ist so eine: Wie er bin ich manchen Umweg gegangen – daran denke ich heute. Ich habe nicht geeifert wie er und ich habe auch nicht mit Gewalt meinen Weg gesucht; aber verrannt hatte ich mich. Wie oft war ich müde und habe gezweifelt an mir und an der Welt: Ich bin auch nicht besser als die Väter. Und nun stehe ich hier, hineingeführt in dieses Amt, in das Gott mich gerufen hat!
Da gibt es immer wieder diese Engel am Weg, die auf mich achten, die mich anrühren: Nichts ist zu Ende, noch lange ist es nicht genug, du hast noch einen weiten Weg vor dir. Steh auf und iss! Wie oft durfte ich auf dem Weg bis hierher Brot und Wasser – gerade das, was ich brauchte – finden: Geduldige Zuwendung gefunden und Berührung: Speise für den Weg, den Gott zeigt; nicht allein gegangen. Viele von den Engeln - Botinnen und Boten Gottes - sitzen heute hier. Allein das ist Nahrung auf meinem Weg.
„Steh auf und iss“: Brot und Wasser stehen für so vieles, wovon unser Leben sich nährt. Jede und jeder von uns hat so seine Krüge und ihre gerösteten Brotbrocken – Wegzehrung durch das Leben. Eine Wegzehrung ist für mich ein Absatz aus dem Prophetenbuch Ezechiel im 47. Kapitel:
„Und er führte mich wieder zu der Tür des Tempels. Und siehe, da floss ein Wasser heraus unter der Schwelle des Tempels nach Osten; … und er führte mich … durch das Tor im Norden und brachte mich außen herum zum äußeren Tor im Osten. Und siehe, das Wasser sprang heraus aus seiner südlichen Seitenwand. Und der Mann ging heraus nach Osten und hatte eine Messschnur in der Hand, und er maß tausend Ellen und er ließ mich durch das Wasser gehen: Da ging es mir bis an die Knöchel. Und er maß abermals tausend Ellen und ließ mich durch das Wasser gehen: Da ging es mir bis an die Knie; und er maß noch tausend Ellen und ließ mich durch das Wasser gehen: Da ging es mir bis an die Lenden. Da maß er noch tausend Ellen; da war es ein Strom, so tief, dass ich nicht mehr hindurch konnte; denn das Wasser war so hoch, dass man schwimmen musste... Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, hast du das gesehen? … Und er sprach zu mir: Dies Wasser fließt hinaus in das östliche Gebiet und weiter hinab zum Jordantal und mündet ins Tote Meer. Und wenn es ins Meer fließt, soll dieses Wasser gesund werden, und alles, was darin lebt und webt, wohin der Strom kommt, das soll leben. … und alles soll gesund werden und leben, wohin der Strom kommt…Und an dem Strom werden an seinem Ufer auf beiden Seiten allerlei fruchtbare Bäume wachsen; und ihre Blätter werden nicht verwelken, und mit ihren Früchten hat es kein Ende… denn ihr Wasser fließt aus dem Heiligtum.“
Bilder des Lebens, Bilder der Fülle. Einer steht im Haus Gottes an der Quelle aller Kraft, sucht Anschluss an frisches Wasser. Da wird er berührt und hinausgeführt vor die Tür des Tempels. Und da draußen sieht er, wie das Wasser unter der Schwelle des Tempels hindurch fließt und sich einen Weg bahnt hinaus, und wie es aus der Wand quillt und anschwillt zu einem Strom. Er sieht das Wasser, Element, aus dem alles Leben entsteht. Schöpfungskraft. Und er weiß: Es ist von Gott. Bei ihm entspringt alles, was lebt. Aber Gottes Kraft bleibt nicht bei sich. Sie entspringt im Heiligtum, geht aber hinaus, überwindet Türen, durchbricht Mauern. Und wie jeder Fluss, von der Quelle her gespeist, sich ausbreitet zum Meer hin, so auch das Wasser des Lebens. Es nimmt seinen Lauf. Die Vorstellung vom Paradiesstrom, der am Wohnort Gottes, bei Gott selbst, seinen Ursprung hat, spielt hier hinein. Das, was da im Tempel klein und unscheinbar seinen Anfang nimmt, schwillt geheimnisvoll an und draußen erst entfaltet es seine ganze Kraft: „…es mündet ins Tote Meer“, sagt der, der den Propheten führt, „und wenn es ins Tote Meer fließt, soll dessen Wasser gesund werden und alles, was darin lebt und webt, wohin der Strom kommt, das soll leben…“ – das ist die großartige Verheißung, die dem Propheten, die uns gegeben ist: Was von Gott her seinen Anfang nimmt, das will sich entfalten, will wachsen. „…wohin der Strom kommt, das soll leben…“
Diese Verheißung, liebe Schwestern und Brüder, ist nicht nur Nahrung für meinen Lebensweg. Sie ist mir auch Bild und Gleichnis für die Gemeinschaft der Heiligen, die unterwegs ist, Gott zu entdecken und anzusagen. Gleichnis für seine Kirche – und sie ist zugleich Bild und Gleichnis für mein Verständnis von geistlicher Leitung.
„Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch.“ Gott selbst bleibt nicht für sich. Er geht hinein in die Welt, wird Mensch, zeigt in Jesus die heilende Macht der Liebe: „Bleibt in meiner Liebe!“, sagt Jesus: Wir wissen als Christenmenschen, wo die Quelle ist, wir wissen, wo wir sie zu suchen haben. Wir wissen um ihre Kraft, und es ist wichtig, dass wir immer wieder zu ihr zurückkehren. Und es ist auch klar: Um zur Quelle zu kommen, muss man gegen den Strom gehen, gegen das anlaufen, was überall heraus- und herum- und hereinquillt. Gegen die Götzen und die Mächte und gegen die Ungerechtigkeit in der Welt und die Friedlosigkeit. Gegen den Hass und gegen die Gewalt.
Der Glaube bleibt nicht an der Quelle stehen. Er weiß: Draußen erst wird sichtbar, was die Quelle kann! In der Welt, bei den Menschen entfaltet das Lebens-Wasser seine Kraft und wird zum Strom, der mitreißt. Darum muss Kirche aus sich heraus. Wie das Wasser aus dem Heiligtum unter der Schwelle hindurchfließt und aus dem Mauerwerk herausspritzt, so muss und darf Kirche „nicht ganz dicht“ sein. Das ist das eine Amt der Kirche: weitergeben, was wir selbst empfangen haben, erzählen von unserem Glauben. Und Wege zeigen zu den Früchten, die kein Ende haben inmitten der vergänglichen Welt. Erzählen, woher die Kraft der Welt kommt, erzählen, worauf die Welt bauen kann, erzählen von den Früchten, die die Liebe trägt, die Gott uns erweist an seinem Sohn Jesus Christus und die er uns zutraut, weiterzugeben. Darum gibt es evangelische Kindertagesstätten und leider noch viel zu wenige evangelische Schulen; darum kümmern wir uns um Religionsunterricht und kämpfen für ihn; darum ist die Bildung so ein großes Thema für uns von den KiTas bis zur Seniorentagesstätte. Das glaubende Staunen geschieht in jedem Gottesdienst, in jedem Gesprächskreis, in jedem seelsorgerlichen Besuch, in jeder Kasualie an den Knotenpunkten der Lebensgeschichten der Menschen, überall in unserer Kirche in städtischen und ländlichen Räumen, in unserer lebendigen Diakonie, überall, wo Menschen sich auf den Weg machen, die Schwachen zu speisen und das Geknickte aufzurichten: Da fließt das Wasser, da durchbricht es Mauern der Trauer und des Schweigens und der Angst. Natürlich, es gibt gerade in diesen Zeiten von Reformen und Fusionen, von Zusammenbrüchen und Ungewissheiten in der Welt und in der Kirche immer wieder auch die Elia-Müdigkeit, die zum Rückzug verleitet. Aber es gibt immer wieder auch das „Steh’ auf und iss!“
„Und er führte mich zur Tür…und er sprach zu mir: Du Menschenkind, hast du das gesehen?
So möchte ich geistliche Leitung, so möchte ich mein Amt verstehen und das eine Amt der Kirche, das uns allen anvertraut ist, das der Verkündigung der Versöhnung nämlich: Den Weg weisen zur Quelle. Und immer wieder aufmerksam machen darauf, woher uns Kraft zuwächst und woher auch nicht. Und dann immer aber auch wieder hinausführen, ermutigen, aufzustehen. Und das Staunen zu üben: Du Menschenkind, hast du das gesehen?
Aus dem Staunen wächst Leben, wie Gott es schafft und uns schenkt, Staunen über seine Kraft, den Strom seiner Liebe, die sich nicht einsperren lässt - auch nicht in Tempelmauern - die hinaus will, hinein in alles Leben, durchdringen alles, was zwischen uns ist. Und fruchtbar machen das Land und unser Leben, dass es schön werde und neu. „…hast du das gesehen?“ – diesen Reichtum des Glaubens, seine Vielfalt in Nord und Süd, Ost und West, überall in der Welt; Jung und Alt, Stark und Schwach – hast du gesehen, einen Blick dafür, wie aus den Rinnsalen ein Strom wird, wenn das Wort einfließt in die Herzen und Sinne? Wie das Wort, wenn es im Fluss ist, gesund macht? Aufrichtet die Geknickten und die Traurigen erleuchtet? Hast du das gesehen? Sieh nicht nur auf das, was versiegt, was nicht mehr ist wie es früher einmal war, nicht nur den kleinen Strom, das Rinnsal deiner Kraft. Sieh auch auf das, was wächst und gedeiht und Frucht trägt ohne Ende.
Wir haben keine Macht, wie die Welt sie kennt. Aber wir haben ein machtvolles Wort, das tröstet und zurecht bringt; das Orientierung gibt für den Weg des Lebens, Orientierung, nach der so viele Menschen fragen. Wir haben ein Wort, das das Kleine groß spricht und das in den Schwachen stark ist. Wir haben das Wort, das den Wert des Menschen bemisst nicht nach dem, was er kann oder leistet, sondern nach dem, was Gott in ihm sieht: sein Ebenbild. Dieses Wort, das Fleisch geworden ist in Christus, ist gefragt: es muss mehr geben als das, was zu sehen, zu berechnen ist; die Lebensfülle, wie wir sie kennen, die vergeht und schwankt, trägt nicht weit. Die freien Kräfte sind schnell am Ende, wie wir sehen in diesen Wochen. Wir dürfen als von der Verheißung Gottes Gespeiste nicht schweigen, nicht vorenthalten das Wort des Lebens, das Fleisch werden will immer neu. Wir haben uns einzumischen, zu mahnen, zu ermutigen.
Ich bin gegen das Klagen über den Bedeutungsverlust der Kirche in der Gesellschaft. Da geht zuviel gute Energie hinein. Wir haben manchmal die Tendenz zur Selbstentwertung und tun uns schwer mit der Wertschätzung. Natürlich: Wir werden weniger und es ist oft mühsam, gegen den Strom der Zeit und vieler Heilsprogramme zur Quelle zu kommen. Aber es ist nicht die Quelle selbst, die versiegt oder versagt oder an Bedeutung verliert: Reicht unser Zutrauen in die Kraft des Glaubens; in das Senfkorn, in das, was gering und verächtlich erscheint, das aber doch in sich trägt die Kraft unerhörten Wachstums, das nicht abhängig ist von schwankenden Kursen und freien Kräften des Marktes, das nicht ratlos lässt? Hast du das gesehen?
Unter anderem auf dem gemeinsamen Weg mit den Schwestern und Brüdern aus Mecklenburg und Pommern zu einer neuen Kirche im Norden habe ich das Staunen wieder gelernt über das, was uns gemeinsam treibt und was uns hält, wenn die Ströme uns fortreißen – auch die der Begeisterung. Nicht nur schauen auf das, was noch nicht geklärt ist oder was zwischen uns steht, sondern auch auf das, was uns geschenkt ist und gemeinsam aufgegeben ist und was gelungen ist und was uns gemeinsam trägt – in allen Unterschieden. Da ist doch schon angewachsen ein Strom guter Kraft, die fruchtbar macht dürres Land.
Hast du das gesehen? - Die Menschen, die die Fülle sehen da draußen im Jordantal, die kennen auch die Dürre. Die kennen dasselbe Tal auch trocken. So drängen sich auch uns in dieser Jahreszeit, an diesem Tag – ein Tag vor dem 9. November; 70 Jahre nach der Pogromnacht – andere Bilder auf: Zerstörung, Mord und Brandschatzung, Ausrottung einer ganzen Kultur, ganze Generationen traumatisiert durch das mörderische und verbrecherische Gebaren einer elenden Diktatur. Bilder von Schuld und Scham haben wir lange verdrängt – und sie gehören doch zu uns – wie auch die Bilder von Krieg und Verfolgung heute, von Fremdenhass.
Du, Menschenkind, hast du das gesehen? - Das Staunen über die Fülle des Segens verstellt nicht den Blick für die andere Seite, für die Abwesenheit der Fülle des Lebens. Hast du das gesehen – Krieg und Gewalt, Verfolgung und Terror, Ungerechtigkeit? Pogrome, Brände, Synagogen, Mord und Zerstörung? Hast du gesehen auch die eigene Schuld, gesehen, dass wir immer wieder nicht mutig genug den Mund auftun für die Schwachen und Verfolgten, gegen Hass und Gewalt? Dass wir Dämme bauen gegen den heilenden Strom der Liebe und des Friedens, der aus der Erinnerung wächst, aus dem Hinsehen? Es ist gut, dass gerade wir Kirchen vorangehen in der Erinnerungsarbeit und endlich auch auf die eigene Verstrickung sehen, dass wir eintreten gegen das Verdrängen. Wir können das, weil wir zugleich die Quelle erinnern, aus der fließt, was alle Gewalt überwindet, was Schuld und Verderben birgt, was uns stärkt, standzuhalten, zu widerstehen und zu widersprechen. Wer die Bilder des Lebens in sich trägt, wer hoffen kann auf das, was die Augen nicht sehen, der kann sich dem Tod und dem Leid stellen und ausschauen nach Überwindung, nach Umkehr – damit strömen kann und Frucht tragen die Liebe.
„…und wenn es ins Meer fließt, soll dessen Wasser gesund werden und alles, was darin lebt und webt, wohin der Strom kommt, das soll leben.“ – das, liebe Schwestern und Brüder, ist die Verheißung, die wir weiterzugeben haben. Nichts muss bleiben, wie es ist. Wo der Tod regiert, wächst neues Leben. Wo Armut krank und elend macht, dürfen Gerechtigkeit und Recht fließen wie ein Strom. Wo keine Hoffnung mehr ist, steht Leben neu auf. „… und ihre Blätter werden nicht verwelken und mit ihren Früchten hat es kein Ende.“
Steh’ auf und iss! Amen.