12. Mai 2019 | Hauptkirche St. Michaelis Hamburg

Schöpfung ist der Sprung ins pure Leben

12. Mai 2019 von Kirsten Fehrs

Sonntag Jubilate, Predigt zu Sprüche 8,22-36

Liebe Gemeinde!

Sie war immer schon da. Vor allen Ewigkeiten. Schon vor der Schöpfung, das muss man sich mal vorstellen! Die Weisheit mit Namen Sophia war schon an Gottes Seite, ehe er mit seinem Schöpfungswerk begann, ehe er Licht machte und dem Meer seine Grenze setzte: „Bevor er die Berge in die Erde senkte.“ Was für ein sensationeller Predigttext, liebe Gemeinde. Ein Schöpfungslied ganz neuer Art. Mit einer Frau als Hauptfigur. Sehr passend zum Muttertag heute – und sehr passend zur Musik von lauter Komponistinnen, gespielt von großartigen Musikerinnen. Sehr passgenau also die Sophia, die keine Bibliothek voller Weisheitsbücher ist, nein, sie hat ganz eindeutig Figur! Sie ist die Gefährtin, ja Gespielin(!) Gottes, bevor alles Leben auf der Erde begann: „Da war ich beständig bei ihm, ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm auf dem Erdenrund.“ Originalzitat Bibel. O làlà. Und dazu diese Musik von eben – man sieht sie ja förmlich tanzen, die Sophia, damit auch Gott seinen Sonntag Jubilate hat. Prächtig!

Mit diesem Text aus der altisraelitischen Weisheitsliteratur, die uns in den Sprüchen glücklicherweise erhalten geblieben ist, verbindet mich ganz persönlich eine besondere Geschichte. Kirchentag 1995 in Hamburg. Ich war damals in der kirchlichen Erwachsenen- und Familienbildung tätig, und wir sollten als nordelbisches Team den großen Familientag zu genau diesem Text veranstalten. Alles war über Monate geplant, genau durchdacht, für Tausende Große und Kleine, mit Spiel, Gebet, Musik und – Tanz! Denn die Hauptattraktion war eine echte Tänzerin, die als Sophia – gleich zu Beginn der Veranstaltung – auf der Bühne alias dem Erdenrund tanzt. Oder besser: tanzen sollte. Denn leider brach sich die Tänzerin am Tag zuvor ein Bein. Ich verschone Sie mit den Details der Entscheidungsfindung – jedenfalls fiel auf mich das Los, diese Sophia zu tanzen. Was tut man nicht alles für seine Kirche. Einen Nachmittag und Abend also übte ich diesen Solotanz. Bisweilen ein wenig panisch. Pirouetten, Ausfallschritte, Sprünge, gute Güte. Man will sich ja nicht zum Affen machen. Am nächsten Tag dann die Aufführung – ganz peinlich war‘s wohl nicht, die Kinder immerhin hatten ihren Spaß, aber mit Verlaub: Unser Schlepperballett hier nebenan auf der Elbe ist deutlich eleganter …

Diese Erfahrung dennoch heute mit Ihnen zu teilen, hängt mit dem Predigttext zusammen und der Tiefe, die er theologisch in sich trägt. Denn mir wurde schlagartig klar, was der tiefe Sinn von Schöpfung ist, damals beim Tanz, als ich mich auf etwas komplett Neues einlassen musste, buchstäblich mit Leib und Seele: nämlich gerade nicht wie sonst mit dem Kopf zu denken, sondern mit den Füßen zu springen. Schöpfung ist der Sprung ins pure Leben, pulsierend und so wirklich, unplanbar und schön-anstrengend, ist Atmen, Rhythmus, Bewegung, Wunder. Sie ist Sehnsucht nach Ästhetik, die Suche nach Übereinstimmung zwischen Musik und Welt, Leib und Seele. Alles das. Und allemal mehr als Worte, theologische Sätze, was man halt so gelernt hat. Sondern Schöpfung ist Lebenslust, die einen neu auf die Welt schauen lässt. Sophia – Weisheit wird, wenn‘s Freude macht. Jubilate. Na bitte.

Mit der Sophia, die beständig Gottes Lust war und allezeit vor ihm spielte, kam die Lebenslust, das leichte Spiel in Gottes Schöpfung, das ist die Spitze des Textes. Und dies eröffnet doch wahrhaft neue Horizonte in einer hochaktuellen gesellschaftlichen Debatte, in der der Begriff Schöpfung vornehmlich verbunden ist mit Störung: mit Tonnen von Plastik im Meer, die jetzt schon eine Art Zellophanhülle auf dem Meeresboden bilden. Mit einer Tierhaltung, die alles andere als gerecht ist, schon gar nicht artgerecht. Mit einem CO2-Ausstoß, der die Gletscher rasant zum Schmelzen bringt. Und, und, und. Es herrscht ja tatsächlich Angst. Wenn wir manchen Jugendlichen zuhören – damit meine ich jetzt gar nicht zuvorderst die Fridays-for-future-Bewegung, sondern einfach Gespräche mit Jugendlichen –, dann hören wir von Angstszenarien mit fast apokalyptischen Zügen. Es ist Ernst, sagen sie. Jeder Moment entscheidet. Wenn wir jetzt nicht handeln, fliegt die Welt auseinander. Es gibt jetzt ja schon nichts mehr, oder kaum noch etwas, was sie zusammenhält!

So richtig das ja ist – kein vernünftiger Mensch würde den Klimawandel heutzutage bestreiten – ist mir im Blick auf die Sophia doch die Frage gekommen: Ist es wirklich allein die Mahnung, die die Welt rettet? Der Blick auf die Gefährdung? Hält uns und die Welt zusammen, indem wir erkennen, dass sie auseinanderfällt?

Der Predigttext heute eröffnet eine Weisheit, die in der Freude über die Schöpfung liegt. Weil sie das einzige Leben ist, was wir haben, weil sie so unendlich schön ist, weil sie so unglaubliche Wunder hervorbringt – allein wie ein Blatt aufgebaut ist! –, weil man sich so freuen kann über die wachsende Pracht im Mai, deshalb will ich sie schützen, die Schöpfung. Aus Lebensliebe, nicht aus Todesangst.

Werdet also weise, in diesem Sinne, spricht Sophia. „Werdet weise, wohl denen, die meine Wege einhalten. Wohl dem Menschen, der mir gehorcht, dass er wache an meiner Tür täglich. Wer mich findet, der findet das Leben […]. Aber alle, die mich hassen, lieben den Tod.“

„Die mich hassen, lieben den Tod.“ – Das sind schaurige Worte. Denn diese Todesverliebtheit, die gibt es ja wirklich. Es gibt sie bei den Weltzerstörern und Menschenquälern aller Zeiten. „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod“, das war ein furchtbares Motto der Terrororganisation Al-Qaida, schnell übernommen von allen brutalen Selbstmordattentätern aus dem islamistischen Spektrum.

Aber genauso gab es Zeiten in unserem Land, da war die Liebe zum Tod und der Hass auf das Leben die unausgesprochene Maxime: in der Nazi-Diktatur. So hießen denn die allerschlimmsten SS-Verbände, nämlich die Bewacher der Konzentrationslager, „Totenkopf-Verbände“. Am Kragen der Uniform trugen sie den scheußlich grinsenden Totenkopf mit zwei gekreuzten Knochen.

Am Mittwoch vergangener Woche wurden wir wieder mit dieser Geschichte konfrontiert. Es war der 8. Mai, der Jahrestag des Kriegsendes. Wir saßen drüben in St. Katharinen, morgens, und hatten einen Mann eingeladen, der den Holocaust überlebt hat – Ivar Buterfas-Frankenthal, inzwischen fast 87 Jahre alt. In der Terminologie der Nazis ein Halbjude, weil sein Vater ein Jude war und die Mutter eine „Arierin“ und evangelische Christin. Knapp 500 Schülerinnen und Schüler aus 15 Schulen hatten wir eingeladen, von Klasse 9 bis 12, und alle hörten gespannt den Berichten des alten Mannes zu: Wie er als Sechsjähriger von der Schule verwiesen wurde („Lass dich hier nicht mehr blicken, du Jude.“), wie die Familie versuchte zu fliehen und am Ende doch wieder im zerbombten Hamburg landete und sich in einem Kellerloch versteckte. Man hätte über die zwei Stunden, in denen er erzählte, eine Stecknadel fallen hören können. Geduldig beantwortete er die Fragen der Schülerinnen und Schüler – und sie hatten viele Fragen. Danach, was man aktuell gegen Rechtsextremismus tun kann. Oder gegen die zunehmende Islamfeindlichkeit. Besonders beschäftigte sie die Frage nach der Vergebung. Da blickte Ivar Buterfas-Frankenthal zu seiner Frau hinüber, auch sie Tochter eines KZ-Opfers, und er antwortete: „Vergeben? Haben wir längst. Vergeben? Immer. Aber vergessen? Nie! Ich sage euch: Vergessen darf man das nie.“

Vergessen, und hier komme ich zu unserem Text zurück, vergessen widerspricht jeder Form der Weisheit. „Hört die Mahnung und werdet weise und schlagt sie nicht in den Wind!“ So sagt es unser Text. Vergesst nicht, was ihr erlebt habt, und lernt daraus. Die Weisheit ist also beides: die Schöpfung genießen und sie sich spielerisch aneignen einerseits. Aber andererseits ist sie auch die mahnende Erinnerung.

In unserer Zeit, liebe Gemeinde, ist beides dran: Mahnung und Leichtigkeit. Wir stehen zwei Wochen vor einer Europawahl, die in manchem eine Schicksalswahl wird, weil unser Kontinent jetzt eine klare Richtung braucht. Als evangelische und katholische Bischöfinnen und Bischöfe im Norden haben wir dazu gerade eine gemeinsame Erklärung formuliert, in der wir unsere Sorge über den zunehmenden Nationalismus auf unserem Kontinent deutlich machen. Und wir sagen: „Die Europäische Union braucht fraglos ebenso konstruktive wie kritische Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter. Und sie ist darauf angewiesen, dass Menschen die europäische Idee mit Leben füllen, einander begegnen und gemeinsam tragfähige Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit suchen.“

Ich bin überzeugt: All diese Appelle sind nur dann wirksam, wenn wir zugleich immer wieder auch die Errungenschaften, ja die Leichtigkeit Europas betonen. Dass wir in Frieden leben können, 74 Jahre schon! Dass wir reisen können, grenzenlos frei; dass wir nach Spanien oder Schweden umziehen können, wenn wir wollten; dass junge Leute die Wahl haben, ob sie lieber in Barcelona oder in Berlin studieren.

Setzt gegen die Unvernunft die Mahnung, aber setzt vor allem gegen die Angst die Leichtigkeit des Lebens! Jubilate! Stimmt ein in den Jubel der Schöpfung. Das ist der Wunsch der Weisheit, der Sophia, die wir ein bisschen zu sehr vergessen haben. Dabei waren einst viele Kirchen nach ihr benannt, darunter die damals größte Kirche der Christenheit, die Hagia Sophia in Konstantinopel, dem heutigen, schlagzeilenträchtigen Istanbul. Holen wir sie wieder zurück in unsere Kirche und in unsere Gedanken, die Sophia, die das Spiel kennt. Nicht nur, indem wir uns auf Neues offen einlassen, wie Kinder es können. Sondern auch, indem wir unsere Gedanken herauslocken lassen aus Enge und Gewohnheit, ins Gedanken-Spiel hinein, das Räume eröffnet und Grenzen überwindet. So – in diesem Geist der Sophia – können wir wirklich frei sein, wer weiß, vielleicht so frei, um den Tanz zu wagen …

Und Gottes Friede, höher als alle Vernunft, bewahre dabei unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

Datum
12.05.2019
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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