23. September 2018 | Dom zu Lübeck

Seelsorge ist das A und O in einer verunsicherten Gesellschaft

23. September 2018 von Kirsten Fehrs

17. Sonntag nach Trinitatis, Predigt zu Jes 49, 1-6

Liebe Gemeinde,

als Bischöfin mit Ihnen gemeinsam im Dom zu Lübeck Gottesdienst zu feiern empfinde ich stets als Privileg. Es ist eine so lebendige Gottesdienstgemeinde! Viele kommen fast jeden Sonntag, die Kinder und Jugendlichen sind willkommen und gehören mitten hinein ins Heilsgeschehen, gesungen wird gern. Wir kommunizieren miteinander – indem wir uns etwa im Geviert gegenseitig anschauen und wahrnehmen als die, die sich auf Christus ausrichten. Oder indem wir das Brot miteinander brechen, Stärkung gerade in den Brüchen unseres Lebens.
Und nicht nur was den Dom zu Lübeck betrifft, auch sonst habe ich oft Anteil an der Fülle unseres kirchlichen Lebens: Volle Kirchen und wunderschöne Musik, weil es Jubiläen zu feiern gibt oder die Verleihung der Bugenhagenmedaille oder Landeserntedankfest.
Und während ich das so aufzähle, gestehe ich zugleich ein - da muss man ganz nüchtern durch: Erstens: Es liegt nicht an mir.
Und zweitens. Es ist nicht der Normalfall, dass man wegen Überfüllung schließen müsste. Schon gar nicht hier im Norden, wo die Leute ihre Kirchen bekanntlich so gern mögen, dass sie sie unbedingt schonen…

Nun wissen wir Protestanten, dass der Glaube nicht allein sonntags gelebt wird, sondern sich im Alltag ereignet und bewährt. Und doch merke ich in Gesprächen, gerade in Pastorenkonventen, aber auch in Kirchengemeinderäten, dass dieses Thema die Menschen umtreibt. Die Frage nämlich, wie es denn steht mit unserer Relevanz als Kirche und warum wir denn nicht mehr Menschen erreichen und sie stärker begeistern für das, was uns wichtig ist. Und warum so wenige zum Gottesdienst kommen und  überhaupt zu wenig nach der Kirche gefragt wird. Denn an der Botschaft, am großartigen Evangelium der Befreiung kann es nicht liegen! Dann wohl schon eher an uns, sagen viele Kirchenleute. Und lassen irgendwann die Flügel hängen, so dass da kein Wind mehr drunter kommt und der Geist nicht wehen kann – und wer so resigniert wirkt, verliert ja erst recht an Attraktivität.

Ich aber dachte, ich arbeitete vergeblich und verzehrte meine Kraft umsonst und unnütz!  So heißt es in unserem Predigttext und klingt vertraut. „Wir sind von Gott berufen“, heißt es da – aber wer will das wissen? Gott hat uns seine Zusage gegeben, dass er durch uns seiner Herrlichkeit auf die Welt helfen will – allein: wie schaffen wir das bloß?
So ungefähr haben die Israeliten gedacht, vor mehr als 2500 Jahren. Genauer gesagt: So klagte jener Teil des Volkes, der 40 Jahre zuvor nach der Zerstörung Jerusalems ver-schleppt worden war, nach Babylon. Diese Männer und Frauen hatten zwar ihr Möglichstes getan, sich dort einzuleben – aber sie blieben fremd. Sie hatten ihr Möglichstes getan, ihren Glauben zu bewahren – doch die verwirrende Vielfalt der Megametropole Babylon stellte ihre alten Gewissheiten immer wieder infrage.
Als Fremde in der Gesellschaft – so aktuell ist das! – schwankten sie zwischen Integration und Resignation. Sie wollten der Stadt Bestes, doch es interessierte keinen. Die Folge: Ihre Hoffnung schwand wie auch ihre Gemeinschaft nicht mehr hielt. Kein Band des Friedens mehr, sondern der Spaltpilz und der Neid der Besitzlosen.

Doch dann die Wende: Irgendjemand, es können auch mehrere gewesen sein, schrieb ein geniales Buch, das wir heute als Kapitel 40 bis 55 im Jesajabuch finden. Man nennt es auch Deuterojesaja, „zweiter Jesaja“, und es will ein Trostbuch sein: „Tröstet, tröstet mein Volk“, so fängt es an. Und ziemlich in der Mitte dieses Buches steht unser Predigttext.
 „Wir sind klein, wir arbeiten vergeblich, wir verzehren unsere Kraft, und das alles umsonst.“ Jesaja (nennen wir ihn so) fühlt sich ein in die Resignierten. Er ist ein guter Seelsorger. Seelsorge ist das A und O in einer verunsicherten Gesellschaft. Auch heute übrigens. Es nimmt Angst und Wut, wenn jemand Worte für das Leid findet und es damit anerkennt.
Jesaja macht aber noch etwas: Er löst sich und die Israeliten langsam von ihrem fixierten Blick auf die Vergangenheit. Er verspricht nicht: Alles wird wie früher, wir werden wieder in unser Land zurückgehen, und dann werden wir wieder eine in sich abgeschlossene, homogene Gesellschaft sein, die sich vor dem Rest der Welt abschottet.
Sondern er verspricht: Gerade ihr, die kleine verlorene Schar im Exil, ihr wisst, was es heißt fremd zu sein. Und deshalb seid ihr berufen, nicht nur euer Volk Israel aufzurichten und zu sammeln. (Oder wie es im Evangelium Jesus dank der Kanaanäerin auf einmal versteht: Wir sind eben nicht nur gesandt zu den Verlorenen Israels.) Vielmehr, so bei Jesaja weiter, vielmehr habe ich euch auch zum Licht der Völker gemacht, sagt Gott. Mein Heil reiche bis an die Enden der Erde. Will heißen: Unser Gott ist nicht unser exklusiver Besitz, er ist kein Nationalgott eines einzigen Volkes. Er ist der Gott der ganzen Welt! Der jüdische Theologe Martin Buber übersetzt den letzten Satz so: „dass meine Freiheit werde bis an den Rand des Erdreichs“. Freiheit! Darum geht’s. Und zwar: universal! – Heißt also nicht: mache dicht! Sondern mache dich auf!
Mache dich auf. Gerade die kleine Schar, die ihre Minderheit nicht beklagt, sondern an-nimmt, kann die Zukunft gewinnen. Vor zwei Wochen habe ich in Hamburg einen Gottesdienst gemeinsam mit chinesischen Christinnen und Christen gefeiert. Und es war faszinierend zu hören, wie der christliche Glaube sich ausbreitet in einer Weltgegend, in der er vor wenigen Jahrzehnten noch brutal unterdrückt wurde. Mit modernen Liedern und gelebter Diakonie, mit allen technischen Raffinessen inklusive Kommunikation der Gemeinde selbstverständlich über neue soziale Medien. Und dennoch voller Inbrunst und Herzlichkeit. Rasant breitet sich gerade die evangelische Kirche aus, weil ein wild wachsender Kapitalismus eben auch jede Menge Opfer produziert. 40 Millionen Protestanten gibt es inzwischen in China, die übrigens tatsächlich in die Kirche gehen, in riesige moderne Kirchen, jeden Sonntag dreimal Gottesdienst, jeweils mit Tausenden bis an den Rand gefüllt.

Und mir ist an diesem Beispiel vom anderen Ende der Erde noch einmal klar geworden: Wir sind eine Weltgemeinschaft der Berufenen. Berufen, gemeinsam Verantwortung zu tragen für die Freiheit in diesem Erdenhaus. Denn – das Grundmotiv beschreibt Jesaja wunderschön – von Mutterleib an bin ich – und jeder Mensch! – vor dem HERRN wert ge-achtet.
Und so erleben wir es ja auch bei uns, wie aus der kleinen Zahl eine größere werden kann, wenn die Herzen der Menschen erreicht werden. Wie viele tausend Helfer*innen fanden zum Beispiel den Weg in unsere Gemeinden, als sie sich spontan bereit fanden, Flüchtlinge zu unterstützen – und eben: wertzuachten! Sicher, viele haben sich inzwischen wieder zurückgezogen. Aber manche bleiben eben doch – und stärken die kirchliche Stimme, die in diesen Zeiten unbedingt Relevanz hat! Weil sie von ihrer biblischen Botschaft her gegenhält und gegenhalten muss gegen Menschenverachtung und Fremdenfeindlichkeit und – mit Verlaub – gegen diese Verrohung demokratischer Kultur, die wir in unserem Land in den vergangenen Wochen und Monaten bedrückend erlebt haben.
Ich höre allerorten, dass das die Menschen zutiefst besorgt. Nicht umsonst haben sich Zehntausende aufgemacht, in Frankfurt, Berlin, Köln, gestern Rostock. Um „Nein“ zu sagen zu rechtspopulistischer Hetze, Spaltung und Kälte. So ein tobender Mob und drohende Selbstjustiz in Chemnitz, liebe Geschwister, ist doch beängstigend! Sagen auch gerade viele Ältere. Es braucht die Bewegung von vielen, um diese Dynamik des Hasses umzukehren. 16 000 waren es jüngst in Hamburg. Von den Reedern bis hin zu den „Omas gegen Rechts“ war die Mitte der Gesellschaft dabei, um ganz klar zu sagen: Die Würde des Menschen ist und bleibt unantastbar. Wertgeachtet von Mutterleib an. Wir werden nicht dulden, dass man Flüchtlinge auf See ertrinken lässt. Gerade wir hier an den Küsten wissen, dass verweigerte Seenotrettung ein absoluter Tabubruch ist! Wir werden auch nicht dulden, dass Geflüchtete angepöbelt und zusammen geschlagen werden! Wenn wir hier irgendeine Unklarheit lassen, liebe Gemeinde, sind wir schon auf dem Weg in die Barbarei.  
Natürlich müssen wir darüber reden – und sicher auch streiten -, wie eine vernünftige Zuwanderungspolitik aussehen müsste und wie die Integration auch schwersttraumatisierter Menschen gelingen kann. Hier haben Kirche und Diakonie natürlich eine Aufgabe. Und wir müssen im Blick auf die humane Katastrophe dort im Mittelmeer natürlich darauf dringen, dass alle europäischen Länder ihrer Verantwortung nachkommen. Klar ist, dass das nicht einfach zu lösen ist. Aber klar ist auch: es gelingt bestimmt nicht, wenn jedes Land sagt: Hauptsache ich nicht! Denn das setzt eine todbringende Spirale in Gang. Soll irgendwann noch der letzte Hafen dicht machen? Nein, wir müssen aufbrechen. Wir müssen sie aufbrechen, diese „Hauptsache ich nicht“- Stimmung!
Denn Gott spricht: Ich habe dich berufen und zum Licht über alle Völker gemacht, dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde.

Ich bin von Herzen dankbar, wie viele in unserer Kirche eine Haltung zeigen, die diesem prophetischen Wort Gestalt geben. Die unbeirrt ausstrahlen: Integration statt Resignation. Und ich sage: es lohnt sich. Da ist gar nichts vergebens! Dazu eine letzte Episode:
Als kürzlich wieder Zehntausend auf die Straße gingen, um 178 Merkel-muss-weg-Demonstranten fröhlich entgegen zu pfeifen, kam es zu einer wunderbaren Begebenheit. Meine Sekretärin kam auf dem Rückweg von dieser Gegendemo an einem türkischen Gemüseladen vorbei, und dachte sich: günstige Gelegenheit, ein bisschen Schafskäse zu kaufen. Drei junge Türken waren in dem Laden gerade über ihr Smartphone gebeugt und debattierten: „Eh, sag mal, sind es mehr? Sind es mehr als die anderen?“ Und meine Sekretärin warf spontan ein: „Klar, wir waren bestimmt 10.000 hier und 178 Leute dort. „Super, eh, Zehntausend für uns“, sagte der eine begeistert. „Ey Digger, das nächste Mal gehen wir auch hin“, sagte der andere. Und zu meiner Sekretärin gewandt, in ausgesuchter Höflichkeit: „Den Schafskäse bekommen Sie geschenkt, danke, dass Sie auf der Demo waren.“
Ich habe auch dich und dich zum Licht der Völker gemacht, dass mein Heil reiche bis an die Enden der Erde, spricht Gott.
Sein Friede, höher als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

 

Datum
23.09.2018
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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