Stimme der Hoffnung in Zeit des Zusammenbruchs
14. Dezember 2014
3. Advent, Predigt zu Matthäus 11, 2 ff
Liebe Adventsgemeinde hier in der Christuskirche!
I
„Zion, du Freudenbotin, steig auf einen hohen Berg; Jerusalem, du Freudenbotin, erhebe deine Stimme mit Macht; erhebe sie und fürchte dich nicht! Sage den Städten Judas: Siehe, da ist euer Gott; siehe, da ist Gott der HERR! Er kommt gewaltig, und sein Arm wird herrschen.“
So haben wir gehört in der Lesung aus der wunderbaren messianischen Verheißung, wie sie aufgeschrieben ist beim Propheten Jesaja. Genauer ist es ja die Botschaft des zweiten Jesaja, der seine Stimme der Hoffnung laut werden lässt in der Zeit des Zusammenbruchs und der sich ausbreitenden Lähmung: Die große Krise des Volkes Israel hatte sich lange angekündigt. Und da war noch gar nichts mit „Krise als Chance“ – wie wir heute so oft leichthin sagen – sondern: Da drohte der Untergang des Volkes Israel: Geistliche und geistige Haltlosigkeit – fern von einem Ort, an dem Gottes Gegenwart so heilsam gegenwärtig gewesen war über Jahrhunderte. Fern von Jerusalem, fern vom Berg Zion, fern vom Tempel sind die Deportierten im 6. vorchristlichen Jahrhundert im Exil in Babylon: Heimatlosigkeit und Sprachlosigkeit schienen sich auszubreiten – Obdachlosigkeit in Sachen des Glaubens und der Hoffnung. Das Volk Gottes am Abgrund… Dann aber die Stimme Gottes aus dem Mund des Propheten:
„Tröstet, tröstet mein Volk! spricht euer Gott. Redet mit Jerusalem freundlich und prediget ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist.“ Was für ein Auftrag, was für eine Verheißung an Predigerinnen und Prediger im Advent! Aber so beginnt der Trost, der Neuanfang, das Aufbäumen: dass angesagt wird das Kommen Gottes. Aufbruch braucht Ermutigung von Gott, dessen heilmachendes Wort tröstet und befreit. Aufstand braucht Erinnerung an die Zeit des gelungenen Auszugs in die Freiheit – vormals raus aus der Knechtschaft des Volkes Israel in Ägypten. Glaubensgeschichte ist Auszugsgeschichte: Raus aus der Depression und hinein in eine neue Zukunft mit Gott – Erinnerung nach vorn – das ist in der Heiligen Schrift zu lernen und es wird da vorgelebt. Und genau darum, liebe Schwestern und Brüder, ist die Bibel das Glaubensbuch und Lebensbuch schlechthin – sie, die Bibel ist der Schatz der Kirche! Allein das Wort!
„Es ruft eine Stimme: In der Wüste bereitet dem HERRN den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserem Gott … denn die Herrlichkeit des HERRN soll offenbart werden.“ So der Prophet: Das sind Adventstöne, die all das Liebliche beiseite drängen; das ist die Sehnsucht auch in unserer Zeit: dass einer kommen möge, mit starker Hand dazwischen fahren, ein Ende machen mit all der sinnlosen Gewalt – in Syrien und im Nordirak vor allem – aber auch und leider immer noch dringlich im Heiligen Land. Dass ein Ende wird endlich mit der Knechtschaft derer, die ihre Heimat verlassen müssen, weil Diktatoren ihr eigenes Volk verfolgen; weil das Klima sich so verändert, dass in der Dürre nicht genug Nahrung wachsen kann; weil das Land ausgebeutet wird von fremden Mächten. Trost soll werden für alle, die nicht ein und aus wissen, die von der Hand in den Mund leben müssen – mitten im reichen Land. Bei Ihnen hier in Italien – und auch bei mir zu Hause in Deutschland. Und Trost ist angesagt – gewaltig und mächtig. Hell und strahlend.
II
„Tröstet, tröstet mein Volk…“: immer wieder bricht diese Sehnsucht durch und immer wieder findet diese Sehnsucht Anlass. Ich erlebe das auch, liebe Schwestern und Brüder, als Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, die seit ihrer Gründung 2012 eben auch weite Gebiete umfasst, in denen die Gegenwart Gottes über Jahrzehnte geleugnet und die Präsenz der Kirche bekämpft wurde – teils offen, teils verdeckt. Gerade bei denen, die uns Kirchenleute eher aus der Distanz wahrnehmen oder skeptisch sind gegenüber dem, was wir als lebensnotwendig ansehen, erlebe ich diese Erwartung und Sehnsucht. Auch die religiös unmusikalischen Zeitgenossen sind irgendwie angerührt und umgetrieben von dem, was da sein könnte: Trost wird ersehnt; süchtig nach Hoffnung sind gar mache.
Und Gott kommt. Und genau dafür ist die Kirche da: Zu verkündigen die Botschaft des Trostes und der Hoffnung, auszurufen und anzusagen die Zeit Gottes, die immer das Hier und Jetzt meint: „Tröstet, tröstet, mein Volk“ … Hinein gesagt in das Leben der Trauernden; hinein gerufen in das Leben der Hoffnungslosen, die schlicht einfach gar nichts mehr erwarten für sich. Doch Gott kommt, das ist die Ansage: Er kommt gerade zu denen, die nicht ein und aus wissen. Er kommt – und Trost liegt auch in der Ermutigung, zu widersprechen den lebensfeindlichen Mächten; Trost liegt auch in Gottes Forderung, die Füße endlich auf den Weg des Friedens zu richten. Und Trost für uns alle liegt auch darin, wenn Flüchtlinge willkommen geheißen werden und unerwartet viele Menschen sich mit ihren Gaben und Fähigkeiten vor Ort einsetzen, um mit Nahrung und Kleidung, mit Sprachkursen und Musik und Tanz – und vielem mehr! – da zu sein und zu helfen den Vertriebenen.
In all dem wird sichtbar die Schutzkraft der lebensdienlichen Gebote Gottes, der ein Gott des Lebens ist. Ein Entwaffner, nicht ein Bewaffner! Einer, der uns verweist auf die Mühseligen und Beladenen, einer der in die Mitte stellt den Ausgegrenzten, den Flüchtling. Gott selbst also das Licht, das Leben ausleuchtet, damit es sich entfalten kann – in Frieden und Sicherheit und Liebe. Ein Licht aber auch, das in die Erkenntnis führt dessen, was dem Leben dient und dessen, was es bedroht. Ein Licht auch, das klar macht die Verdrehungen in den Köpfen und Herzen der Menschen, die nun in Deutschland mehr und mehr auf die Straße gehen, um die so genannten „Werte des christlichen Abendlandes“ aggressiv gegen Zuwanderer und / oder Muslime zu verteidigen. Nicht gottgewollt ist das, sondern von Menschen entfachter Irrsinn!
Gerade in diesem zu Ende gehenden Jahr 2014 ist diese Erinnerungskultur notwendig: 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges, dessen bis dahin nie gekannte Gewalt Nationen und Völkern Tod und Verderben gebracht hat. Und dessen Gewalt sich auch ausbreiten konnte, weil auch Kirchen ihren Gott verraten und seinen Namen missbraucht haben. Nicht anderes als vor 75 Jahren, als der Zweite Weltkrieg ausbrach und wieder Millionen ermordet wurden, weil sie als Juden ausgerottet werden sollten oder als Kommunisten, Humanisten oder Widerständler den selbsternannten „Herrenmenschen“ im Wege standen. Und wieder war Gott vergessen, war die Erinnerung verblasst an den, der der Friedefürst ist. Auch das ist ein Ruf im Advent: nicht zu vergessen das Unrecht und das Leid. Nur darum war und ist Versöhnung denkbar geworden. Zwischen Völkern, zwischen Religionen. Und nur als die Versöhnten sind wir stark, dem immer wieder neu aufstehenden Bösen, dem Terror, dem Genozid größten Ausmaßes in Syrien und im Nordirak die Stirn zu bieten, den Menschen Schutz zu geben. Weil in ihnen allen sichtbar ist, der der da kommt, der selber Flüchtlingskind ist: Gott Jakobs, heruntergekommen und Mensch geboren! Dahin lasst uns auf-sehen. Erinnernd. Und darum des Glaubens gewiss, dass der, der kommt, überwindet.
III
„Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten?“
Das ist die entscheidende Frage im Advent – die Frage die nicht gleich neue Aktion hervorruft, sondern die ein Stop! markiert, ein Halt inne, ein Warte!
Rettung wird kommen, der Retter wird kommen, ja – aber der Retter bin nicht ich. Nicht von mir und meinem Tun hängt das Wehe und das Heil der Welt ab! Auch nicht von uns als christlicher Gemeinde hier und weltweit hängt das Heil der Welt ab – ein Glück, denn wir würden uns heillos verirren in Weltrettungsphantasien! Uns Menschen zu gute ist sie vergeben, die Rolle des Weltenretters: Jesus, der Christus ist es, der diesen Platz längst besetzt hat und heilvoll wirkt. Auch davon legt doch der Innenraum dieser Christkirche in Rom beredt und wunderbar Zeugnis ab: Christus ist da, Christus wirkt, Christus regiert – er ist der gute Hirte, der weidet seine Herde sorgfältig und behutsam. Darum heißt Advent eben auch: Anzusagen Gottes Kommen und Sein Heil – und darum, uns Menschen zu bewahren vor dem Allmachtswahn!
Und die, die nicht mehr hinsehen mögen, die kaum aushalten können das Dunkel in der Welt, die sich sehnen nach Licht und Hoffnung: denen sind geschenkt die Bilder von der neuen Welt, von der Welt, wie Gott sie meint.
Jesu Antwort auf die Frage der Johannes-Leute lautet in unserem Text ja – wie gehört:
Schaut genau hin, sagt Jesus, schaut genau hin ins Hier und Jetzt: „Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf, und Armen wird das Evangelium gepredigt.“
Advent: wir bekommen ein Bild davon, wie Gott sich diese Welt denkt, wie sie sein kann. Und wir bilden genau das ab, wenn wir das Lichtermeer brausen lassen und die Klänge der Bläserinnen und Bläser, der Sängerinnen und Sänger in den Kirchen und auch in den Wohnzimmern: wenn wir singen und klingen lassen die Gewissheit, dass nichts bleiben muss, wie es ist, dass nichts im Dunkel bleiben muss; dass Frieden werden kann; dass niemand sich fürchten muss. Advent heißt: Mit Gott rechnen! Sein Kommen auf dem Zettel zu haben! Ihm also Raum und Zeit zu lassen, damit er hineinfallen kann in unser Denken und Tun! Advent heißt: Da kommt einer, der frei macht, der aufsperrt, der den Himmel aufreißt.
Liebe Schwestern und Brüder, überall da, wo wir aufnehmen den Fremdling; überall da, wo wir sorgen für die, die verzweifelt sind. Ja: wo wir Gastfreundschaft wagen, überall da, wo wir teilen miteinander, was wir zum Leben haben – überall da tut sich Verschlossenes auf. Wer Advent feiert, sagt: wir können auch anders!
Das ist die wunderbare Botschaft im Advent: was verschlossen scheint, muss verschlossen nicht bleiben. Gott läßt uns dahinter schauen. Er läßt uns sehen, was offenbar ist: seinen Frieden, seine Gerechtigkeit, seine Menschlichkeit. Läßt uns all das sehen in dem Kind im Stall, dessen Eltern ebenfalls vor verschlossenen Türen erst stehen mussten, bevor ihnen aufgetan wurde.
Gott ist im Kommen. Er sieht, was hier geschieht. Er will nicht hinnehmen Leid und Elend, Blut und Mord und Flucht und Hass und Machtgier. Er kehrt sich nicht ab, sondern kehrt um – zu uns. Das traut Gott uns zu, dazu will sein Advent uns leuchten: dass wir unsere kleine Kraft nutzen, den kleinen Glauben in die Waagschale werfen. Dass wir den Bildern, den Lebensbildern des Advent, den Lichtern trauen, dass sie sich festsetzen in uns als Wegweiser durch unsere Lebenswege, als Hoffnung über den Tag hinaus!
IV
Liebe Gemeinde, von Zion aus, vom Heiligen Berg aus, von Jerusalem aus, soll sie in die Welt gehen, die Freudenbotschaft, so hatte es Jesaja angekündigt. Ich persönlich denke in diesen Tagen in der Ewigen Stadt Rom auch hinüber in die Heilige Stadt Jerusalem. Vor zwei Jahren war ich in Jerusalem. Wir haben auf dem Ölberg die Auguste-Viktoria-Stiftung besucht und mit dem Pastorenehepaar gesprochen, die für die EKD dort das Pilgerzentrum verantworten sowie mit denen vom Lutherischen Weltbund, die dort oben das Hospital betreiben. Mitten im besetzten Palästina liegt dieser Ort, mitten in Ostjerusalem. Und wenn man von dort in die Weite schaut, sieht man auf der einen Seite bis hin zum Jordan, nach Amman. Man ahnt die Schönheit des Landes mit seinen Hügelketten. Und man sieht die auf die Palästinenser-Quartiere zuwachsenden Siedlungen der Israelis, die aufgerichteten Mauern, Checkpoints: Orte der Angst, die zu spüren ist. Und auf der anderen Seite sieht man über Jerusalem – nicht weit entfernt von jenem Ort, von dem aus Jesus auf Jerusalem geblickt und über die Stadt geweint hat. Und da oben, mitten im umkämpften Gebiet nun dieses Hospital, verbunden mit der Kirche, die offene Türen hat für alle. Dieses Hospital ist das einzige medizinisch hoch qualifizierte Zentrum, das die Palästinenser aus der Westbank überhaupt zur Verfügung haben.
Der Muslim, dem die Diabetes-Wunde versorgt wird, sieht in der Schwester nicht die Christen, sondern den Menschen, der sich ihm vorbehaltlos zuwendet. Und die jüdischen oder christlichen Ärzte sehen nicht die Muslime, die Fremden, sondern Menschen, die Hilfe brauchen – und sie bekommen. „Ich bin gekommen, weil die Kranken den Arzt brauchen, nicht die Gesunden“, sagt der erwachsene Jesus. Dieser Ort da oben auf dem Ölberg ist ein Ort, an dem Versöhnung geschieht. Ein Ort, an dem Hass und Entzweiung überwunden werden. Ein Ort der Versöhnung, der zum Frieden mahnt, an dem dem Entsetzen nicht ausgewichen wird, an dem aber durch das Entsetzen hindurch Heilung sichtbar und erfahrbar wird. Und wenn man die Fenster der Kirche öffnet, ist dieser heilige Ort sichtbar verbunden mit dem Hospital. Der wahre Arzt Jesus, der gekommen ist, damit wir das Leben haben, nimmt Wohnung da, wo die Sehnsucht groß ist. Gott lässt die Seinen nicht. Er kommt herunter. Verlässt die heilige Wohnung. Kein Schloss, kein Riegel kann ihn halten.
„Er weidet seine Herde wie ein Hirte. Er wird die Lämmer in seinen Arm sammeln und im Bausch seines Gewandes tragen und die Mutterschafe führen.“ Das sagt der Prophet. Darauf kann ich mich zum Glück immer wieder freuen – nicht nur zur Weihnachtszeit, aber dann ganz besonders. Amen.