Neujahrstag, 1. Januar 2019 | Dom St. Nikolai zu Greifswald

Suchet den Frieden!

01. Januar 2019 von Hans-Jürgen Abromeit

Predigt über Psalm 34, 15, Jahreslosung für das Jahr 2019: „Suchet den Frieden und jaget ihm nach!“

Liebe Gemeinde!

„Komm, wir ziehen in den Frieden“, singt Udo Lindenberg in seinem jüngsten Lied. Damit trifft er einen Nerv unserer Zeit. Viele empfinden: Der Friede ist bedroht, auch bei uns, wie schon lange nicht mehr. Frieden war uns in Europa Jahrzehnte lang selbstverständlich. Das Konfliktpotential in Europa war durch die Europäische Union (EU) weitgehend neutralisiert, nach dem Fall des eisernen Vorhanges und der Berliner Mauer stellte sich ein Gefühl ein, als ob es keine Alternative zum Frieden geben würde. Dabei hatte die EU tiefe Gräben überwunden.

Jede Familie hat ihre Geschichten von Krieg und Frieden. Die Familie meiner Frau fuhr vor Jahrzehnten mit der Oma, deren Bruder im ersten Weltkrieg vor Verdun gefallen ist, zum Soldatenfriedhof von Verdun. Dort hatte eine der grausamsten Schlachten getobt: Zählt man die Toten auf beiden Seiten zusammen, auf der französischen und auf der deutschen Seite, dann kann man von 6000 Tote am Tag ausgehen. Insgesamt fielen in der Schlacht 350.000 junge Männer. Deutsche und Franzosen, die heute eine tiefe Freundschaft verbindet, standen sich in abgrundtiefer Feindschaft gegenüber. Da steht die Familie und sieht das Meer von Kreuzen der deutschen Gefallenen, findet auch das Grab des Bruders und Onkels und Großonkels, dann dreht sich die damals schon alte Großmutter herum und schaut auf die Tausende von Kreuzen der getöteten Franzosen: „Da liegen also unsere Erbfeinde!“ Und ihre Enkelin sagt: „Oma, wie kannst du nur so reden?“

Eine solche Einstellung war das Ergebnis einer nationalistischen Verblendung. Jahrhunderte lang standen sich Deutschland und Frankreich als Feinde gegenüber; man hatte schlimme Erfahrungen miteinander gemacht. Zum Beispiel war die Besatzung der napoleonischen Truppen zu Beginn des 19. Jahrhundert– auch hier in Pommern (!) für die Deutschen eine traumatische Erfahrung gewesen. Darüber wurden die Franzosen zu Deutschenfressern und die Deutschen zu Franzosenfressern, man traute sich gegenseitig nicht über den Weg. Immer wieder loderten Kriege auf. Heute kann man sich das gar nicht mehr vorstellen, weil beide Länder Freundschaft geschlossen und begonnen haben ihre Probleme gemeinsam zu lösen. 2012 erhielt die Europäische Union den Friedensnobelpreis. Das norwegische Nobelpreiskomitee stellte fest: Die EU hat Europa von einem Kontinent des Krieges zu einem Kontinent des Friedens gemacht.

Nun bröckelt die EU. Großbritannien wird sie verlassen. Nationalistische Interessen und populistische Strömungen in vielen Ländern wie Polen, Ungarn, Italien, Frankreich, Österreich und auch bei uns schwächen Europa mehr und mehr. Wer die Kraft Europas klein macht, vergrößert die Gefahr kriegerischer Auseinandersetzungen. In der Ostukraine schwelt ein Krieg, der jederzeit wieder offen ausbrechen kann. Am Rande Europas, im Nahen Osten und in Nordafrika, gibt es in keinem Land wirklichen Frieden. Weltweit werden gegenwärtig 20 Kriege geführt.

„Komm, wir ziehen in den Frieden“: Vor rund 2.500 Jahren hieß das „Suchet den Frieden und jaget ihm nach“. Diese Zeile aus einem Psalm, also einem gedichtetem Gebet, haben sich die Kirchen als Jahreslosung für das Jahr 2019 ausgesucht. Im Originaltext heißt es „Schalom“. Das hebräische Wort gehört zu einem Verb, das die Bedeutung „genug haben“ hat. Es ist sehr konkret gemeint. Das Alte Testament weiß, dass Friede immer Kompromiss ist. Jeder muss etwas beigeben. Friede ist ein Zustand, „der aus gegenseitig entrichteten Leistungen hervorgeht“[1]. Dann haben alle das, was sie zum Leben brauchen. Dann herrscht Gerechtigkeit und Menschen leiden nicht aneinander oder an den Umständen. Gerade in unserer Zeit, die so sehr von Terror und Krieg, von Hektik und Hass beherrscht wird, sehnen wir uns nach diesem Frieden. Friede ist also vielmehr als die Abwesenheit von Krieg.

Gottes Schalom zielt auf die Ausgeglichenheit aller Lebensverhältnisse. Gott hatte uns Menschen geschaffen, um in Gemeinschaft mit ihm zu leben. Alle sollen das zum Leben haben, was sie brauchen, Gerechtigkeit soll herrschen und alle Macht dem Recht dienen. Dieser Frieden hat viele Aspekte. Er schließt den Frieden mit der Natur ein, mit den anderen Menschen und zwischen Völkern. Die Grundlage ist der Friede mit Gott. Aber gerade der ist aus den Fugen geraten. Viele interessiert die Gottesbeziehung gar nicht. Darum haben wir Menschen die Maßstäbe verloren und wir leben in Unfrieden mit der Natur, im ewigen Wettstreit mit anderen Menschen und häufig im Kampf mit anderen Völkern. „Schalom“, „Frieden“, das bedeutet für den Beter dieses Psalms mehr als das Schweigen der Waffen. Mit dem hebräischen Wort ist eine Art Vollständigkeit, eine Ganzheit gemeint, ein umfassender Zustand von Zu-Friedenheit, der Gesundheit und Wohlbefinden einschließt und keine Ungerechtigkeit kennt.

Aber schon im Alten Testament brach sich die Erkenntnis Bahn: Wir überfordern uns, wenn wir Menschen meinen, einen solchen Zustand der Ganzheit, des Friedens herstellen zu können. Wir Menschen können den gerechten Frieden in der Welt nicht machen. Das gilt einerseits, weil er nicht nur von uns abhängt. Und dann: Können wir für uns selbst die Hand ins Feuer legen, dass wir immer nur das Frieden Förderliche tun? Der umfassende Frieden ist unverfügbar. Wenn es ihn gibt, ist Frieden ein Geschenk. Schon bei den Propheten des Alten Testaments spricht es einer aus: „Er wird unser Friede sein!“ (Micha 5,4). Er, den Gott schicken will, und der „in Israel Herr sein wird“(V. 1).Und die Propheten wissen auch um die Möglichkeit, dass erst Vergebung notwendig ist, um anschließend Kompromisse schließen zu können. Dieser eine, der Gottesknecht, eröffnet uns den Weg: „Die Strafe liegt auf ihm, damit wir Frieden hätten“ (Jesaja 53, 5). Wir Christen glauben daran, dass Gott uns in dem Menschen und Gottessohn Jesus diesen Frieden geschenkt hat. Dass mit Jesu Geburt der Friede ausgebrochen ist und dass wir nur im Glauben an ihn wahren Frieden finden können.

Der Weg Jesu war ein einziges Friedenbringen: Schon die Engel haben es auf den Feldern von Bethlehem gesungen: „Frieden auf Erden!“ Auch die Botschaft Jesu war eine Friedensbotschaft, vielleicht am besten zusammengefasst in den Seligpreisungen: „Selig sind die Sanftmütigen/Gewaltlosen, denn sie werden die Erde besitzen!“ (Matth. 5,5) Und als Jesus bei seiner letzten Wanderung auf dem Ölberg ankommt und auf Jerusalem schaut, weint er über die Stadt: „Wenn doch auch du erkenntest, was zum Frieden dient“ (Luk. 19, 42). Der Weg Jesu ist ganz dem Schalom gewidmet. Sein Sterben und Auferstehen schafft die Erlösung aus Sünde und Befreiung von der Bosheit. Damit wird deutlich: Mit Jesus haben wir die wichtigste Voraussetzung für Frieden! Wenn Frieden, dann mit ihm!

Entscheidend ist nun der Blickwechsel – weg von einer gewaltsamen Lösung der Konflikte hin zum Frieden. Im Jahr 2019 denken wir daran, dass sich die friedliche Revolution in der DDR zum 30. Mal jährt. Durch diese einmalige Revolution ohne Gewalt haben wir gelernt: Mit Mut, Phantasie, einem langen Atem, friedlicher Gesinnung und nicht zuletzt Gottvertrauen ist es möglich, die Verhältnisse gewaltlos zu wandeln. Die Kerzen und die Friedensgebete haben die friedliche Revolution zum Erfolg geführt. Hier hat sich auch die Friedensbotschaft Jesu bewährt. Christian Führer, der damals Pfarrer an der Nikolaikirche in Leipzig gewesen ist, von wo die Friedensdemonstrationen ausgegangen sind, hat es bewegend geschildert: Es war der aus der Bergpredigt Jesu gewonnene Slogan „Keine Gewalt!“, den die Demonstranten bei den Leipziger Protestzügen skandiert haben. Dieser Satz hat geholfen, die Auseinandersetzung zwischen der Staatsmacht und der Opposition friedlich zu führen. Nur auf dem friedlichen Wandel der Verhältnisse liegt Gottes Segen.

Durch bloßes Stillhalten oder Festhalten an dem, wie es schon immer war, ist der umfassende Frieden nicht zu erreichen. Ein Scheinfrieden vielleicht, der bestenfalls etwas zukleistert. „Wir ha'm doch nicht die Mauer eingerissen/ Damit die jetzt schon wieder neue bauen/ Komm lass uns jetzt die Friedensflaggen hissen“ singt Udo Lindenberg. Auch in unserer Region erleben wir, dass es trotz 30 Jahren deutscher Einheit unter der Oberfläche brodelt. Die Debatte um Ernst Moritz Arndt hat gezeigt, wie dünn diese Oberfläche ist: Viel Unversöhntes und erlittenes Unrecht, das nicht zur Sprache gekommen ist, steht zwischen den Menschen, viele gegenseitige Vorurteile zwischen „Ossis“ und „Wessis“ sind immer noch da. Aufeinander zugehen, miteinander reden, Kompromisse schließen ist angesagt, weil er, Jesus Christus es uns vorgemacht hat.

Auf dieser Basis sollen wir den Frieden nicht nur suchen, sondern – so übersetzt Luther - ihm nachjagen. Dieses Jagen ist kein Jagen, das am Ende eine Beute zur Strecke bringt, sondern ein Nachjagen, ein intensiv Verfolgen, ein nicht aus dem Blickfeld Verlieren. Ich bleibe am Ball. Nichts kann mich davon abbringen. Das gleiche Wort, das in Psalm 23 das sichere Folgen von Gutem und Barmherzigkeit bezeichnet, sagt hier das kontinuierliche Dranbleiben an der Ausrichtung auf Frieden aus. So wie mir „Gutes und Barmherzigkeit folgen werden mein Leben lang“ (Psalm 23, 6), so werde ich den Frieden als stetes Ziel im Auge haben (Psalm 34, 15). Die Leute Gottes sind dem Frieden verpflichtet.

Dem Frieden nachzujagen, das kann der erste Schritt sein auf den ewig meckernden Nachbarn zu, auf die Schwester, mit der man sich um das Erbe gestritten hat, auf den Freund, der einen im Streit an der empfindlichsten Stelle getroffen hat. Das kann sein ein „es tut mir leid“. Dabei hält der, der den Frieden sucht, nicht einfach still um des lieben Friedens willen, sondern benennt Unrecht und setzt sich ein für die, die in Unfrieden leben müssen. Das gilt im persönlichen Bereich und in der großen Politik.

Am 28. Dezember haben wir einen Visionär eines solchen Friedens verloren. Gestern wurde er begraben. Der israelische Schriftsteller Amos Oz hatte 1967 und 1973 für sein Land als Soldat gekämpft. Aber er hat verstanden, dass am Ende Kompromisse eingegangen und Friede geschlossen werden muss. Mit anderen gründete er die Friedensbewegung „Frieden jetzt!“ und war ein schonungsloser Kritiker der gegenwärtigen israelischen Regierung und Gesellschaft. Er war in der Lage, auch die berechtigten Interessen der Palästinenser wahrzunehmen und für sie einzutreten. Er suchte einen Frieden, der Israelis und Palästinenser zu ihrem Recht kommen lassen wollte. Friede ist untrennbar mit Gerechtigkeit verbunden.

Daran sollten wir uns auch bei der Diskussion um Rüstungsexporte erinnern. Der Einsatz von Gewalt kann sowohl innerstaatlich als auch in internationalen Konflikten nur eine allerletzte Möglichkeit demokratischer Staaten sein, wenn es darum geht, Leben zu schützen. Deswegen dürfen wir, Deutschland, Waffen auch nicht an autokratische Regierungen verkaufen. Unsere Regierung trägt die Verantwortung dafür, dass entsprechende Geschäfte unterbleiben. Aus aktuellen Bezug will ich auch sagen: Dort, wo unsere Regierung Firmen ermöglicht hat, Ausrüstungsgegenstände und Waffen an totalitäre Regime zu verkaufen und diesen Handel dann im Nachhinein unterbindet (wie bei der Werft in Wolgast), sind die Firmen zu entschädigen.

Aber es bleibt dabei: Nur auf dem friedlichen Wandel der Verhältnisse liegt Gottes Segen. Frieden zu suchen, ist Aktivität. Der Frieden stellt sich nicht von selber ein. Man muss ihn wollen. Aber wir können ihn auch wollen, das hat nicht zuletzt die friedliche Revolution 1989 gezeigt. Auf dieser Basis jagen wir dem Frieden nach. „Komm, wir ziehen in den Frieden!“

In diesem Sinn wünsche ich Ihnen allen ein friedliches Jahr 2019!
Amen.

 

[1] G. Gerlemann, Art.: slm, genug haben; in: THAT II (1976), 919 – 935, 929.

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