Theaterpredigt zur Oper Tannhäuser von Richard Wagner
10. März 2024
Sonntag Lätare
Heute Morgen ist Premiere. Jedenfalls für mich – Premiere für eine Theaterpredigt – Predigt am anderen Ort. Ansehen eines Werkes und seiner Inszenierung auf religiöse Aspekte, Kommentierung aus persönlicher evangelischer Sicht.
Das alles an einem Sonntag in der Passionszeit, die dem Gedenken von Leid und Schmerz, aber ebenso von leidenschaftlicher, hingebungsvoller Liebe gewidmet ist. Leidenschaften, hingebungsvolle Liebe, die auch im Tannhäuser begegnen. Leidenschaften, mit denen Tannhäuser ringt - hingebungsvolle Liebe, die Elisabeth verkörpert. Und auch das gehört zur Passionszeit, die zugleich eine traditionelle Fastenzeit ist, wie zum Tannhäuser dazu: die Herausforderung, zu verzichten auf etwas oder jemanden, die für das eigene Leben essentiell wichtig erscheinen.
Diese Theaterpredigt aber findet nicht nur in der Passionszeit statt, die mit Leid und Leidenschaft, hingebungsvoller Liebe und der Forderung nach Verzicht verbunden ist. Sie findet statt an einem besonderen Sonntag in dieser Passionszeit. In der kirchlichen Tradition trägt dieser Sonntag den Namen: Lätare - „freue Dich“, manche nennen ihn auch: Klein Ostern. Denn mittlerweile ist die Mitte der Passions- und Fastenzeit überschritten, das Osterfest und die mit ihm verbundene Freude rücken näher. In der farblichen Gestaltung dieses Sonntags, in der liturgischen Farbe in den Kirchenräumen, findet das einen besonderen Ausdruck: das dunkle Violett der Passionszeit, die traditionelle Farbe der Buße, mischt sich mit dem Weiß der hellen Auferstehungsfreude - zu kräftigem Rosa. Aus zwei scheinbaren Gegensätzen entsteht etwas Neues - eine Mischfarbe, ein Hybrid, ein fluider Farbton.
Und schon sind wir mittendrin in der Wagner-Oper und ihrer Schweriner Inszenierung. Mittendrin und mitten dabei beim Tannhäuser und seinem Ringen mit den großen Gegensatzpaaren von Erotik und keuscher Liebe, Leidenschaft und Vernunft, Sünde, Schuld und Vergebung, Chaos und Ordnung, vielleicht auch freiem, ungezwungenem Künstlertum und bürgerlicher Existenz. Wobei – das sei einer Bischöfin so kurz nach dem Internationalen Frauentag als Bemerkung erlaubt – in der Wagner-Oper ist das alles schon ein sehr männliches Ringen. Eines, in dem die inneren Gegensätze und unterschiedlichen, einander widersprechenden Bedürfnisse viel zu groß für eine einzelne – männliche – Existenz erscheinen. Auch deshalb – so jedenfalls sehe ich es – werden sie nach außen verlagert und in insbesondere zwei weibliche Figuren hineingelegt und projiziert. Zwei Frauen, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten: die tugendhafte, verehrungs-, wenn nicht gar anbetungswürdige Elisabeth und die verführerische, besitzergreifende Venus. Oder kurz als klassisches Gegensatzpaar: Heilige und Hure.
Oben, auf der Wartburg, verbunden mit Elisabeth und ihrem Vater, klare Ordnungen, ritualisiertes und damit auch Halt und Sicherheit gebendes Zusammenleben. All das im Zeichen der Verehrung für „den Bronnen, der die Tugend wahr ist“, und von dem die Sängerkollegen des Tannhäuser schwärmen. Und unten, in der Höhle des Venusberges, verbunden mit der Liebesgöttin selbst und ihrem bunten Gefolge, verschwimmen Grenzen und Ordnungen. Sie lösen sich auf in freier wie grenzenloser Leidenschaft, ziehen hinein in ein Chaos, das selbst Tannhäuser als Dauerzustand überfordert und erschöpft. Dort im Venusberg verschwimmen selbst – so hier in der Schweriner Inszenierung – die sicher geglaubten Grenzen und Klarheiten der eigenen geschlechtlichen Identität.
Kein Problem, solange diese Welten mit ihren je eigenen Gesetzlichkeiten sauber voneinander getrennt bleiben. Aber höchst problematisch, höchst spannend, ja bis aufs äußerste spannungsgeladen, schier unaushaltbar, wenn beide Welten einander begegnen. Dann gibt es nur das entweder - oder. Wer Venus verlässt, für den gibt es nie wieder ein zurück, muss Tannhäuser erfahren. Und allein, weil er dort im Venusberg war, gibt es eigentlich keine Aussicht mehr auf ein Leben in der geordneten Welt der Wartburg. Keine Chance für Grenzgänger. Keine Möglichkeit für eine wandernde Existenz zwischen den Welten. Verzweifelt dagegen anlaufend ist Tannhäuser fortlaufend auf Wanderschaft - geht hierhin und dorthin, auf und ab und hin und her, ruhelos pilgernd, kein Ort, nirgends. Mit nur einer Chance, einem Ausweg, der freilich auch gegangen, beschritten, erwandert werden muss: Für ein geordnetes Leben und Lieben mit Elisabeth muss er Buße tun für die Zeit der Leidenschaft im Venusberg, sich auf Pilgerschaft begeben nach Rom.
Zeit, um auf dem Weg des Tannhäuser als Theologin dazwischenzutreten. Mit Verständnis wie Kopfschütteln gleichermaßen. Zunächst Verständnis - denn ja, natürlich weiß ich um die Traditionen der Kirchengeschichte, in denen eine sorgsame Trennung propagiert wurde. Auf der einen Seite eine als gefährlich angesehene, und deshalb verbotene und versteckte Sinnlichkeit, körperliche Liebe, erotische Leidenschaft. Und auf der anderen Seite das hehre Ideal tugendhafter Liebe, sexueller Enthaltsamkeit, Liebe als geistiger Haltung - Agape - gelebt als barmherzige und gütige Zuwendung. All das begründet mit Verweis auf die Bibel, verkörpert gefunden in Eva und Maria, in der Frau entweder als Verführerin oder Heilige. Allenfalls in den Grenzen der Ehe durften Leidenschaft und Sexualität dann ihren Raum haben, gewissermaßen kulturell eingehegt, oder sublimiert zu besichtigen in Kunstwerken und auf den Brettern, die die Welt bedeuten, im Theater.
Aber dann auch – energisches Kopfschütteln der Theologin. Denn genau das alles gibt die biblische Botschaft so eindeutig nicht her. Genau dafür kann man sie nicht vereinnahmen. Denn auch mitten in der Bibel gibt es ein Buch, für das Sexualität und Liebesrausch schlicht Bestandteil des menschlichen Lebens sind. Ein schöner und zu feiernder Bestandteil noch dazu. Das Hohelied, das Lied der Lieder, so heißt dieses Buch der Bibel, ist eine Sammlung von Liebesliedern, voll von Erotik. Wahre Liebe ohne Sexualität und Sinnlichkeit ist in diesem Buch mitten in der Bibel nicht denkbar.
Ob die Minnesänger der Wartburg wohl anders auf den Tannhäuser reagiert hätten, wenn sie das Hohelied der Bibel in Kopf und Herz getragen hätten? Denn die menschliche Liebe, gleichberechtigt und einvernehmlich gelebte Sexualität sind für dieses biblische Buch weder dreckig noch schmuddelig, und schon gar keine Sünde.
Apropos: Sünde. Vielleicht murmelt es jetzt in Ihnen: Aber da war doch was mit dem Sündenfall, gleich zu Anfang, in der Schöpfungsgeschichte, der ersten Geschichte der Bibel. Da war doch was mit Adam und Eva, den beiden Nackten. Geschaffen zum Bilde Gottes – übrigens wörtlich nicht als Mann und Frau, sondern männlich und weiblich, also alles andere als statisch und klar festgelegt, sondern mit der Freiheit, zu gestalten, was männlich, was weiblich umfassen mag. Also Adam und Eva, die dann doch vertrieben wurden aus dem Paradies nackter und freizügiger Existenz. Alles wegen Eva mit dem Apfel. Eva, die Verführerin, die der Schlange nicht widerstehen kann, und dann nimmt das Unheil seinen Lauf, die beiden werden, jetzt notdürftig bekleidet, vertrieben aus dem Paradies der Unschuld.
Ach ja, seufzt die Theologin, ich weiß, ja, ich weiß, und ich sehe, wie gerade bei dieser Geschichte alles hübsch durcheinander geht und geworfen wird. Lassen Sie uns das ein bisschen sortieren und mich etwas zur Geschichte zum sogenannten Sündenfall sagen und damit auch zu dem, was offensichtlich im Tannhäuser und in der Tradition christlichen Glaubens bisweilen auch bis heute zuallererst unter Sünde verstanden oder besser: missverstanden wird: Sexualität.
Worum geht es also in der Schöpfungsgeschichte? Nun grundsätzlich erst einmal darum, die Welt und alles Leben in ihr als Geschenk, als Gabe Gottes zu begreifen, für dessen Erhalt Gott selbst einsteht. Ein sich in ständiger Bewegung befindender Urzustand, sozusagen eine chaotische Vorwelt wird durch Gottes sprechendes Handeln – durch sein Wort – in eine Welt kosmischer Ordnung verwandelt. Eine Welt, in der Grenzen, Trennungen und Unterschiede geschaffen werden. Trennungen und Unterschiede, die Verschiedenheit ermöglichen. Erst und gerade dadurch werden überhaupt Beziehungen möglich. Erst und gerade dadurch können sich voneinander Verschiedene aufeinander beziehen. Und erst so entstehen Verhältnisse, in denen Leben weitergegeben und sich weiter entwickeln kann.
Dem Menschen kommt in all dem eine besondere Würde zu, denn geschaffen wird er – in den Worten der Bibel – zum Bilde Gottes, als sein Abbild. Das biblische, hebräische Wort für Bild an dieser Stelle – saelaem – meint Abbild im Sinne einer Statue, einer Art stellvertretenden Anwesenheit. Diese Gottebenbildlichkeit des Menschen bedeutet eine doppelte Verantwortung des Menschen – zum einen gegenüber seinem Schöpfer, zum anderen gegenüber allem anderen Leben, der ganzen Schöpfung ebenso wie seinen Mitmenschen. Der Mensch ist Ebenbild Gottes, indem er sich verantwortlich handelnd zu dem ihm umgebenden Lebensraum samt den Lebewesen darin verhält.
Wenn die Bibel dann vom ersten Menschenpaar im Garten Eden, dem wörtlichen „Wonneland“ erzählt, schildert sie ein Leben in unbegrenzter Fülle – wahrhaft paradiesische Zustände. Sorglosigkeit pur. Zentral platziert in diesem paradiesischen Garten Eden: zwei Bäume. Der Baum des Lebens, der in jeder Hinsicht, auch zeitlich, unbegrenzte Lebensfülle repräsentiert. Leben in grenzenloser Fülle, ohne Begrenzung, ohne Sterben und Tod. Der Zugang zu ihm wird nach der Vertreibung aus diesem Garten für immer versperrt sein.
Und dann der Baum der Erkenntnis. Der Genuss seiner Früchte soll die Unterscheidung von Gut und Böse ermöglichen. Eine Unterscheidungsfähigkeit allerdings, die in ihrer ganzen Wahrheit und Tiefe allein bei Gott liegt und allein Gott zusteht. Von diesem Baum der Erkenntnis zu essen, und damit wie Gott sein zu können, den Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf aufzuheben, das ist die Versuchung, mit der die Schlange lockt. Und diese Versuchung beschreibt, was mit Sünde gemeint ist: Sein zu wollen wie Gott. Sich ihm gleichzusetzen. Nicht Geschöpf, sondern Schöpfer. Das meint Sünde. Allein: Mit Sexualität oder gar der Gleichsetzung von Sexualität und Sünde hat all das herzlich wenig zu tun.
Die Frucht vom Baum der Erkenntnis ist nur zu verführerisch für das Menschenpaar. Und wer wollte es ihnen verdenken. In einer paradiesischen Sorglosigkeit, in Fülle, aber letztlich ohne die Fähigkeit und Notwendigkeit zu eigener Erkenntnis und Entscheidung wollen diese beiden nicht verbleiben. Was die Bibel hier in eindrücklichen Bildern erzählt, lässt letztlich deutlich werden, was menschliches Leben eben auch ausmacht: die Fähigkeit zu eigenem Denken, zu Vernunft und Entscheidung.
In der Beziehungsgeschichte zwischen Gott und Menschen geschieht nun erstaunliches: Einerseits wird eine Grenze überschritten, die Gott zwischen sich und die Menschen gesetzt hat – und die Konsequenz dafür ist klar: es muss wieder für Trennung und Abstand gesorgt werden. Denn bevor die beiden noch ein Verbot übertreten und auch noch vom Baum des Lebens essen, bevor sie unsterblich, ewig werden, und keine Unterscheidung zwischen Gott und Mensch mehr möglich ist, ist es besser, sie verlassen das Paradies. Man kann das lesen als Vertreibung aus Sorglosigkeit und Fülle. Man kann es aber auch lesen als Weg in die Freiheit, in wahre Menschlichkeit mit all ihrem Glück und all ihren Herausforderungen. Und ist es nicht rührend? Gott selbst hält an den beiden fest, schafft beiden einen ersten Schutz für das Leben jenseits des Paradieses, erste Kleidung als Schutzhülle in der rauen Wirklichkeit.
Dort aber, Jenseits von Eden, sind sie durch den Genuss der Frucht vom Baum der Erkenntnis nun gut gerüstet. Im Garten Eden, im paradiesischen Zustand, wo alles nur gut und freundlich für sie war, brauchte das erste Menschenpaar die Erkenntnis von Gut und Böse nicht. Jetzt aber, außerhalb dieses Gartens, wo mitnichten alles nur freundlich und in Fülle vorhanden ist, braucht es die Fähigkeit zur Unterscheidung. Denn unter den Bedingungen eines Lebens in Freiheit, und jenseits unendlicher Lebenszeit und Lebensfülle geht es immer auch um Entscheidungen, um weise Voraussicht, um das Erkennen von Konsequenzen des eigenen Handelns, um Verantwortung für das Zusammenleben mit anderen. Dieses Leben in Freiheit ist Lust und Aufgabe zugleich: „Denn der Mensch muss sein Leben [von nun an, KKS] ständig neu so gestalten, dass er aus einer Fülle von Möglichkeiten der Selbstbestimmung auswählt. Jeder dieser Wahlakte und darum auch das menschliche Leben im Ganzen steht [von nun an, KKS] unter der Alternative von Scheitern und Gelingen.“[1]
Es ist wohl diese Aufgabe, so verstehe ich es, die Aufgabe der bewussten und verantwortlichen Gestaltung des eigenen Lebens einschließlich der eigenen Sexualität und der intimen Beziehung zu anderen Menschen, der Tannhäuser nicht gewachsen scheint, an der er letztlich scheitert oder der er sich verweigert. Vielleicht kann man zugespitzt sagen: er weiß nicht nur nicht, was er will. Er weiß auch nicht, wer er ist und wie er leben will. Der so wichtigen Aufgabe, seine eigene Identität zu entwickeln, einer Aufgabe, die sich für alle Menschen lebenslang stellt, scheint er nicht gewachsen zu sein.
Jedenfalls nicht, solange seine Umwelt und seine Mitmenschen nur Entscheidungen akzeptieren, die zwischen zwei Polen eindeutig wählen – schwarz oder weiß, männlich oder weiblich, Tugend oder Leidenschaft. Tannhäuser führt das in eine ausweglose Situation, der er tatsächlich durch viele Wege von Seite zu Seite, hin und her wandernd zwischen den Welten, zu entkommen sucht. Aber in einer polarisierten Welt gibt es für ihn kein Ankommen, kein Zuhause. Kein Ort, nirgends. Tragisch, traurig, ein Anlass für Mitgefühl und Barmherzigkeit, wie sie Elisabeth empfindet und zum Ausdruck bringt. Aber zu büßende Sünde?
In der männlichen Welt des Tannhäuser, der Wartburg und der Minnesänger hat die Unentschiedenheit, die nicht klar definierte Identität keinen Platz. Wo Mitgefühl und Unterstützung hilfreich sein könnten, antwortet diese Welt mit dem Ruf nach Buße und Umkehr. Entscheide Dich für eine Seite! Und nur für eine Seite!
Was aber sollen Buße und Umkehr für Tannhäuser heilsames und hilfreiches bewirken, wenn sie keine für ihn wirklich lebbare Alternative ermöglichen? Tannhäuser scheitert erneut – der Weg nach Rom bringt keine Erlösung. Und auch nicht der Weg zurück in den Venusberg. Im Gegenteil – seine Uneindeutigkeit ruft in einer Welt, in der nur Eindeutigkeit akzeptiert wird, nun auch bei anderen Schmerz und Leid, Unverständnis und Verzweiflung bis zum Tod hervor. Das zu sehen – nicht nur das eigene Leid, die eigene Verzweiflung zu spüren, sondern auch das Leid, das Unverständnis und die verzweifelte Liebe Elisabeths zu ihm und seinem schier unauflösbaren Schicksal lässt auch seiner Existenz keine real lebbare Möglichkeit – jedenfalls nicht in der ursprünglichen Fassung der Wagner-Oper.
Am Ende, nach aller irdischen Existenz, gibt es dann dort doch noch Erlösung für Tannhäuser. Sein wider alles Erwarten grünender Pilgerstab ist das Zeichen der Erlösung. Nur: um was für eine Erlösung geht es in der ursprünglichen Fassung der Oper? Und: warum und wie erfährt Tannhäuser Erlösung nach seinem Tod? Ist es Erlösung, weil sein Tod ihn vom ruhelosen Wandern zwischen den Welten nun endlich ausruhen lässt? Oder ist es Erlösung für alle anderen, die diesem Drama nun nicht mehr zusehen müssen und sich dadurch selbst in ihrer eigenen Existenz und Ambivalenz herausgefordert sahen?
Um welche Erlösung geht es? Erlösung, weil Tannhäuser für seine rauschhafte Zeit im Venusberg Buße getan hat? So sehen es jedenfalls Walther, Heinrich, Wolfram, Biterolf, Reinnar, der Landgraf, die Ritter und die älteren Pilger – kurz: die Welt der Männer auf der Wartburg. Sie singen „alle in höchster Ergriffenheit“: „Der Gnade Heil war dem Büßer beschieden, nun geht er ein in der Seligen Frieden!“
Ich weiß nicht, ob ich diesem Erlösungsverständnis wirklich zustimmen will. Der Frieden, von dem sie singen, ist vielleicht der Frieden, den Tannhäuser erfährt. Aber ist es nicht noch vielmehr ihr Frieden, weil ihre Ordnung, ihre Welt nun wieder sicher erscheint, und scheinbar eindeutig und ungestört weitergehen kann, unberührt und unbewegt von einem, der zwischen den Welten wandert?
Vielleicht ist es eher der Chor der jüngeren Pilger, der versteht, um welche Erlösung es geht und warum sie geschieht. Dieser Chor singt: „Erlösung war der Welt zuteil. … Hoch über aller Welt ist Gott und sein Erbarmen ist kein Spott!“
Ich will es so sagen, und ja, ich kann nun einmal nicht anders, und will und soll es bei einer Theaterpredigt ja auch nicht, ich will es so sagen, ganz als evangelische Theologin:
Wir sind ja – Sie erinnern sich noch – heute am Sonntag Lätare, dem rosaroten, hybrid-fluiden Tag, an dem inmitten allen Leides und durch alle dunkelviolette Passion hindurch das hellweiße Osterlicht scheint. Es kündet von einer Erlösung, die aus freier, überschießender und unbeirrbarer Gnade auf uns zukommt – von Gott, dessen Erbarmen mit seinen Menschen und seiner Welt eben kein Spott ist. Sein Erbarmen bedeutet eine schier kaum zu fassende Hoffnung. Die Hoffnung auf neues Leben. Auf ein Leben, das alles, was wir kennen und erfahren, übersteigt und gänzlich davon verschieden ist – neu, anders, ohne die Grenzen, die irdisches Zusammenleben kennt und braucht.
Eine Hoffnung auf heilvolle Verwandlung, auf Transformation in eine neue Schöpfung, deren Gestalt und Leiblichkeit mit bisher gekanntem nicht beschrieben werden kann. Jedem Samenkorn, so beschreibt der Korintherbrief im Neuen Testament die Auferstehungshoffnung auf ein ganz und gar neues Leben, jedem Samenkorn schenkt Gott seinen eigenen Leib (1. Korinther 15,38). Jedem Menschen, so mag man das verstehen, schenkt Gott eine Leiblichkeit und ein Leben, in der die ihm jeweils entsprechende Eigenart voll und ganz – ewig und in Fülle – zur Geltung kommen wird. Leben jenseits irdischer Polaritäten. Leben, neues Leben, Leben auch und gerade da, wo wir meinen, dass alles Leben an sein Ende gekommen ist. Neues Leben jenseits der Grenzen geschöpflichen Seins, für das Christus selbst mit seinem Leben und seiner hingebungsvollen Liebe zu uns Menschen einsteht. Erlösung aus Erbarmen, als uns allen entgegenkommende Umarmung.
Was bleibt noch zu sagen? Was dort als Erlösung in Fülle verheißen ist, darf hier schon Orientierung für menschliches Leben sein. Darf schon hineinreichen in dieses Leben. Darf seine transformative Kraft entfalten und Lebensfeindliches verändern zu das Leben Beförderndem und freundlich Unterstützendem. Das ist die Kraft der österlichen Hoffnung, die schon dieses Leben verändert. Das ist das helle Licht neuen Lebens, das heute an Lätare durch Schmerz und Leid und Tod hindurch scheint. Keine rosarote Brille, nein. Aber dennoch ein neues Licht, in dem man diese Welt sehen und verstehen kann.
Dass diese Sicht am Ende der Schweriner Inszenierung vor aller Augen auf der Bühne zu sehen ist, das hat mich berührt, bewegt und beschäftigt. Offen bleibt für mich, ob das, was dort zu sehen ist, ein Traum, eine Vision ist, wie sie sich auch in der Eigenlogik der ursprünglichen Opern-Fassung hätte entwickeln können. Oder ob es allein eine Sicht der Dinge ist, wie sie sich eben erst heute, unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen ergeben kann. Und im Eintreten für die Realität ist dann wohl auch zu sagen, dass der so berührende, bewegende Schweriner Schluss des Tannhäuser beileibe nicht die allgemeine gegenwärtige Wirklichkeit abbildet. Und schon gar nicht ist er auch nur entfernteste Realitätin den Teilen der Welt, in denen Lebensentwürfe jenseits einer strengen und strikten Heteronormativität verachtet, verfolgt und bestraft werden – zuweilen sogar mit dem Tod.
Der Schweriner Schluss aber leistet etwas, was Theater „at it’s best“ eben auch zu leisten vermag und worin vielleicht auch eine seiner wichtigsten Gegenwartsaufgaben und seine aktuelle Relevanz für das Publikum besteht. Denn, so sagt es der Soziologe Dirk Baecker,
„jenseits der gelungenen Unterhaltung ist jeder Theaterbesuch eine kleine Erschütterung des Sozial- und Seelengefüges. Man sucht einen vertrauten Ort auf, zeigt sich und wird gesehen, plaudert ein wenig - und setzt sich einer Vorführung aus, die zwangsläufig von der Kontinenz sozialer Verhältnisse handelt. … Sätze können gesagt statt verschwiegen oder auch verschwiegen statt gesagt werden. Handlungen könnten diesen, aber auch einen anderen Verlauf nehmen. Das Publikum fühlt sich sicher auf seinem Platz, aber es wird doch von der Einsicht erreicht, dass der Spielraum im Sozialgeschehen größer ist als oft gedacht.“[2]Und ja, auch das trifft auf die Schweriner Tannhäuser-Inszenierung zu: hier werden für die Zuschauenden Anfänge sichtbar und denkbar, „die aus der Überdetermination der Verhältnisse befreien, die uns andernfalls gnadenlos umgeben.“[3]
Das aber vermögen beide – christlicher Glaube, Gottesdienst und Theater: Spielräume eröffnen, Lebensmöglichkeiten sehen und finden jenseits von dem, was oft als gar nicht anders möglich, als alternativlos erscheint. Beide können befreiend wirken – auf Zuschauende wie Akteur:innen im Theater, auf Mitfeiernde – Ordinierte wie Laien – im Gottesdienst, und über sie alle in die Gesellschaft hinein.
Deshalb zum Schluss vielleicht noch das:
An uns alle – macht die Religionen, macht den Glauben nicht verantwortlich für die Konflikte, die in einem selbst liegen. Missbraucht die befreiende Botschaft des christlichen Glaubens nicht, um Macht über andere auszuüben.
An die Religionen Macht das Ringen um die eigene Identität, das zu jedem menschlichen Leben als lebenslange Entwicklungsaufgabe gehört, nicht zum Schauplatz fest vorgegebener und starrer Lebensentwürfe, die Menschen in die pure Verzweiflung führen können.
Der Gott der Bibel schenkt das Leben als unveräußerliche und für andere unverfügbare Gabe, die es von jeder und jedem in Freiheit und Verantwortung zu gestalten gilt und die jede und jeder in Freiheit und Verantwortung gestalten darf. In der Freiheit so vieler Möglichkeiten, die mit der Gabe des Lebens inmitten der Fülle und des Reichtums des Lebens verbunden sind. Das ist eine Aufgabe, ja. Das ist nicht immer einfach, ja. Aber ist es nicht auch wunderbar – ist es nicht einfach auch wunderbar?
Und wo es das nicht ist, wo es einer oder einem schwer damit ist oder unerträglich wird, da seht einander an – als Menschengeschwister. Als Menschengeschwister, die um die Gabe und Aufgabe menschlichen Lebens, ihre Schönheit wie ihre Herausforderung, wissen. Und einander gerade deshalb einfühlsam und verständnisvoll zur Seite stehen können. Also sagt einander immer wieder die Worte, die so wichtigen Worte: „Du bist nicht allein - da bin ja noch ich, da sind ja noch wir.“
Schenkt einander die Freiheit, zuweilen auch ganz läterehaft und rosarot, selbstbestimmt und verantwortlich leben zu können. Klar und eindeutig ebenso wie hybrid und fluid – aber immer wissend um die Fragmentalität, die Verwundbarkeit und Verletzlichkeit, die menschliches Leben ausmachen.
Und vielleicht erzählt ihr einander dann auch von dem Trost, der für mich in den wahrlich österlichen Worten der Bibel liegt: „Ihr Lieben, jetzt schon sind wir alle Kinder Gottes – und es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden.“ (1. Johannes 3,2)
Amen, ja, so möge es sein.
[1] Winfried Härle, Dogmatik, Berlin/ Boston 5. Aufl. 2018, 473.
[2] Dirk Baecker, Die Relevanz des Theaters (für das Publikum). Manuskript zu einem Referat auf der Sitzung des Ausschusses für künstlerische Fragen des Deutschen Bühnenvereins am 16. Mai 2022 in der Staatsoperette Dresden, kure.hypotheses.org/1096, letzter Zugriff 9.3.2024.
[3] Ebd.