9. November 2014 | Dom zu Schwerin

Über die Kraft des Freiheitswillens

09. November 2014 von Gerhard Ulrich

Ansprache im Ökumenischen Gedenkgottesdienst anlässlich des 25-jährigen Mauerfalls

I

Liebe Schwestern und Brüder in Christus!

Montag, 9. Oktober 1989, Leipzig-Innenstadt, St. Nikolaikirche, Friedensgebet, Kirche total überfüllt – auch einige hundert Genossen sind durch Parteiauftrag verpflichtet, sich in die Kirchenbänke zu drücken. Das Gebet gestaltet eine kirchliche Basis-Gruppe: „Selig sind die Friedfertigen, denn sie werden Gottes Kinder heißen“, spricht eine junge Frau mit fester Stimme, während sich in der Menge vor der Kirche lautes Geschrei erhebt. Niemand weiß drinnen, was draußen auf den Straßen geschieht. Drinnen wird verlesen ein Aufruf zur Gewaltlosigkeit, unterschrieben auch von drei Sekretären der SED-Bezirksleitung: „Wir sind von der Entwicklung in unserem Land betroffen und suchen nach einer Lösung … Also: Freier Meinungsaustausch! Keine Gewalt!“ Auch draußen wird der Text über Lautsprecher abgespielt. Eine riesige Menschenmenge, brennende Kerzen in den Händen, singend: „We shall overcome“, „Dona nobis pacem“ und die erste Strophe der „Internationale“. Da heißt es: „Die Internationale erkämpft das Menschenrecht“.

70.000 Demonstranten – „Wir sind das Volk!“ Die Staatsmacht kapituliert vor dem Frieden. „Ich hätte doch gar nicht auf euch schießen können“, sagt ein Kommandant der Arbeiter-Kampftruppen: „Meine Tochter ist doch auch dabei.“

II

Liebe Gemeinde! Vor dem Fall der Mauer - da war sie lebendig und scharf - die Sprengkraft der Bergpredigt Jesu: Keine Gewalt – wir sind das Volk!

„Als er aber das Volk sah“, legt Jesus los und redet. Die, die die Worte zuerst hören, sind Menschen, die in Ängsten leben, gefangen in Macht-Netzen. Menschen, die sich nach Freiheit sehnen und Recht. Menschen, die genug haben von Hass und Gewalt.

„Selig sind die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ Was hat diese Provokation Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts Menschen aufgerüttelt in der Zeit der „Friedensbewegung“ gegen die Aufrüstung der Welt mit todbringenden Massenvernichtungsmitteln. Und dann bei der Friedlichen Revolution 1989: Ein Wunder vor unseren Augen. Gegen die leuchtenden Kerzen und die eindringlichen Gebete, gegen die mutigen Rufe aus immer mehr Kehlen kam die Staatsmacht der DDR einfach nicht an!

So eine Art von Demonstration der Stärke ohne Gewalt ist in Planspielen von Unterdrückern einfach nicht vorgesehen! Umstürzlerisch war sie und ist sie, diese Vision von Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit; diese Ermutigung zum Widerstehen und die Befreiung von Angst, die von den Worten ausgeht!

Als einer, der im Westen aufgewachsen ist, muss ich denen, die die Mauer zu Fall brachten nicht erklären, was sie gemacht und womöglich gefühlt haben. Aber ich kann reden von dem, was ich geschenkt bekommen habe. Staunend über die Kraft des Freiheitswillens, der Sehnsucht nach Recht und Gerechtigkeit, nach Freiheit und freier Meinung. Menschen habe ich gesehen und gehört, die selber nicht sofort  begriffen, was vor sich ging. Manche hämmerten mit lächerlich kleinen Hämmern die Mauer kaputt. Und sie fiel. Ich habe gelernt von vielen, die Widerstand leisteten und für die ihr Glaube ein Risiko war, das aber frei machte! Und ich habe Stärkung meines Glaubens erfahren, ich sehe mit Hochachtung auf jene, die aufgestanden sind gegen Unrecht und Gewalt und Unfreiheit. Aus Wut war Mut geworden. Mündige Bürgerinnen und Bürger wollten nicht länger antasten lassen die Menschenwürde. Friedliche Revolution hat das Gesicht der Welt verändert – ohne Gewalt.

1984, als ich in meine erste Pfarrstelle in Hamburg eingeführt werden sollte, lud ich dazu auch den Pastor unserer Partnergemeinde aus Marlow in Mecklenburg ein, Ingmar Timm. Er schrieb mir eine Karte: „Eigentlich wäre nichts selbstverständlicher, als dass wir teilnehmen an Ihrer Einführung in Hamburg“, schrieb er. Aber die Verhältnisse sie sind nicht so – noch nicht.

Um das Selbstverständliche ging und geht es. Um Freiheit. Um Würde. Um Begegnung ohne Zensur und staatliche Willkür. Vor kurzer Zeit erst habe ich die Timms besucht. Die Verhältnisse, sie sind nun so. Und auch unsere Nordkirche ist ein Ergebnis und ein Zeugnis jener friedlichen Revolution vor 25 Jahren. Auch, weil so viele nicht lassen wollten von ihrem Glauben, dass das Wort Gottes Kraft und Macht hat, Neues werden zu lassen, zu überwinden.

Da waren nicht massenweise fromme Leute auf den Straßen unterwegs. Aber doch waren jene, die sich getragen wussten und wissen von Gottes Wort, die Gott mehr gehorchen als den Menschen, des Vertrauens würdig. Und viele haben in der Gemeinschaft der Kirchen Kraft und Mut gewonnen, den Mund aufzutun und friedlich zu streiten für Recht und Würde.

III

 „Erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht“, sagt der Prophet; „Fürchtet euch nicht…“ – Das Wort richtet auf die Geknickten und befreit von Duckmäusertum und Angst. Eine Haltung, die den Aufstand wagt gegen allen Kleingeist, gegen Mitläufertum. Das ist die Haltung, derer wir 25 Jahre nach dem Fall der Mauer gedenken. Es ist ein Gedenken an jene, die nicht länger hinnehmen wollten, dass Menschen schikaniert werden wegen ihres Glaubens oder ihrer abweichenden Meinung; ein Gedenken an jene, die in den 40 Jahren der DDR-Herrschaft Unrecht erfahren haben. Die um ihr Leben gebracht worden sind an den Grenzen; die im Gefängnis saßen für ihre Überzeugung, ihren Glauben oder ihre Verweigerung; die keine Chance hatten, sich zu entfalten.

Und: es ist ein Gedenken an jene, die wussten und glaubten: es geht auch anders! Wir können auch anders! Das ist die Haltung, die auch die Schwachen und Ängstlichen mitnimmt, weil auch sie gebraucht werden für die Sache des Friedens und der Freiheit. Dieses Gedenken ist nicht rückwärtsgewandt, nicht nur dankbares Erinnern an Gewesenes. Das ist das Gedenken, das dringend nötig ist, um Zukunft zu gestalten! Das ist das Gedenken an eine Haltung, die heute so nötig ist wie damals: gegen wieder aufkommenden Fremdenhass. Gegen Gewalt und Terror, gegen Krieg, Vertreibung und Mord. Und gegen Hunger und Gleichgültigkeit.

„Man kann mit der Bergpredigt nicht die Welt regieren“, hat der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt den Friedensbewegungen zugerufen. Aber ich lasse nicht davon ab, zu glauben, dass die Bergpredigt Jesu Herzen regieren kann. Solche Herzen sind unruhige Herzen, die sich nicht zufrieden geben mit dem, was immer schon so war. Die wissen und glauben: das Recht der Starken gegen die Schwachen ist nicht der Weg des Heils; Vertreibung, Völkermord und Terror sind nicht gottgewollt, sondern von Menschen gemachter Irrsinn.

IV

Liebe Schwestern und Brüder ohne die heilsame Sprengkraft der Seligpreisungen ist für mich jedenfalls die Friedliche Revolution in der damaligen DDR nicht zu erklären – dieser wunderbare deutsche Beitrag zur Weltfreiheitsgeschichte. Da hat eine Diktatur friedlich die Macht abgegeben – auch weil nicht einzumauern war das subversive Quellwasser des Wortes Gottes, wie es in der Bibel bezeugt ist und weil keine Mauer halten kann die Sehnsucht nach Recht und Freiheit und Schalom. Die Vision des Propheten Micha, dass nämlich Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet werden, diese Vision war mutig wach gehalten worden. Ein kreativer Bazillus der Hoffnung – damals lebendig und auch heute von Nöten. Amen.

Datum
09.11.2014
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Gerhard Ulrich
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