1. Mai 2023 | Frohbotschaftskirche Hamburg-Dulsberg

Ungebrochen solidarisch – Gottesdienst am Tag der Arbeit

01. Mai 2023 von Kirsten Fehrs

Predigt zu Matthäus 20,1-16 – Arbeiter im Weinberg

Liebe Erster-Mai-Gemeinde,

und am Ende des Tages wird abgerechnet. Am Ende des Tages bekommt jeder Arbeiter das Gleiche vom Besitzer des Weinbergs. Genau das, was der Mensch zum Leben braucht. Einen Silbergroschen. Nicht weniger. Aber auch nicht mehr. Eigentlich ein solidarisches Tarifprinzip – und in jedem Fall mehr als Mindestlohn. Das heißt in der Sprache des Gleichnisses: Gott schenkt jedem Menschen das, was er braucht. So ein Ärger!

Ungerecht murren nämlich die, die sich in der Hitze des ganzen Tages krumm gelegt haben. Da hat man mal Glück gehabt und morgens schon Arbeit gefunden, ist erleichtert, dass dieser Tag zum Leben reicht. Das Leben als Tagelöhner – im Evangelium hören wir von vielen zur Zeit Jesu – dieses Leben ist wahrlich kein Zuckerschlecken gewesen. Jeden Tag aufs Neue Not. Existenzangst. So etwas steckt man nicht einfach weg.

Das hörten wir ja eben in den berührenden Beiträgen auch. Armut ist so bitter für die Seele. Es kann so demütigend sein und beschämend. Jeden Tag sich feilbieten zu müssen, sich einlassen zu müssen auf die Macht des Marktes, die Macht des Arbeitgebers, die Macht der ungerechten Verteilung – und dabei zu wissen, dass man nicht selten in die Tasche der Reichen arbeitet. Das kennen wir ja heute ebenfalls zur Genüge.

Und auch das, was dann kommt, damals wie heute, dass die Armen mit den noch Ärmeren konkurrieren. Dass sie scheel angeguckt werden. In der Bürgergeld-Debatte des letzten Jahres war es wieder soweit: Was steht wem zu? Wer soll wie viel bekommen? Irgendwas stimmt doch mit denen nicht, die unterstützt werden müssen!

Scheele Blicke – das kannten die Arbeiter im Weinberg sowas von. Ebenso wie diese Erfahrung, immer wieder leer auszugehen. Wenn sie sich in der dritten, neunten, elften Stunde immer noch die Beine in den leeren Bauch gestanden hatten. Und dann bekommen die, die zuletzt angefangen haben, das Gleiche? Die Letzten werden die Ersten sein. Wie zynisch ist das denn? Und so murren die einen und sind sauer auf die anderen.

So schnell geht das. So schnell stehen Zusammenhalt und Solidarität in Frage. Wir erleben es täglich. Deshalb ist der 1. Mai so wichtig, mit diesem großartigen Motto dieses Jahr: ungebrochen solidarisch. Und dafür ist auch eine Demo wichtig, die zeigt: Wir bleiben tapfer beieinander, gehen gemeinsam, Schulter an Schulter den einen Weg. Und dafür ist schließlich ein Erster-Mai-Gottesdienst wichtig, um hoffnungskräftig zu bleiben und allen Sprengkräften der Spaltung entgegenzutreten, mit Gottes Segen.

Und mit Trompeten und Posaunen! Ich grüße die Leute vom Deutschen Posaunentag, die in einem Jahr mit weiteren 15.000 Bläserinnen und Bläsern, als riesige Big Band sozusagen, Hamburg aufmischen werden und die heute schon mal „mittenmang“ sind.

Und zwar: ungebrochen solidarisch. Dieses Motto fragt: Wie bekommen wir das hin? Gemeinsam, mit gerechteren Strukturen. Gehältern, Mieten, Energiepreisen, Krankenversicherungen – die Liste ist lang. Wie bekommen wir das hin, dass Zusammenhalt und Miteinander gestärkt werden? – Und damit auch unsere Demokratie, unsere Freiheit, unser Frieden, innen wie außen.

Wie bekommen wir das hin in diesen beschleunigten Zeiten, in denen wir von einer Krise in die nächste geraten? Corona, Klima, Krieg, Inflation, Energie – das geht doch an die Substanz. Es braucht richtig Kraft, schnelle Einsichten, Lösungen, Antworten, die wir, seien wir ehrlich, eigentlich nicht haben.

Und dabei: Ungebrochen solidarisch bleiben. So ein wichtiges Wort. Ungebrochen. Denn wir wissen doch, wie zerbrechlich alles ist: die Gemeinschaft, die auf die Schwachen achtet. Die Gerechtigkeit. Aber auch der Mensch selbst. Sein Glück. Die Hoffnungen. Ihre Träume.

Ungebrochen solidarisch, das ist den ersten Arbeitern im Weinberg nicht gelungen. Sie sind so dermaßen sauer auf die letzten und den Weinbergbesitzer. So was von ungerecht. Und da geschieht die Wende. Der Weinbergbesitzer, Gott fragt nämlich: Was guckst du eigentlich so scheel? Ich bin nicht ungerecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen? Und wieso sollte ich dem Letzten nicht dasselbe geben, wenn er es denn braucht? Stört‘s dich, dass ich so gütig bin?

Die ärgerliche Güte Gottes, sie ist ein Tarif der ganz besonderen Art, liebe Geschwister. Güte um jeden Preis. Gnade vor Leistung. Irritierend in unserer Welt. Gut so. Wahres Menschenrecht, und um das geht es hier, heißt eben nicht: Alles ist gleich, alle sind gleich. Sondern: Jeder Mensch ist gleich wertvoll. In all seiner Individualität. Gleich welcher Herkunft, Nationalität, Religion. Unabhängig davon, was er oder sie leistet oder auch leisten kann.

Und so tritt uns dies Evangelium ziemlich nahe. Zählt uns an. Ist irgendwie eine Zumutung. Denn hier werden grundlegende Normen und Regeln unseres Zusammenlebens durchbrochen. Und das löst Gefühle aus. Es mag ja irgendwie gerecht sein, wenn jede das bekommt, was vereinbart war – vom Kopf her – dennoch fühlt es sich ungerecht an. Ja, unordentlich. Wo gibt‘s sowas in unseren realen Weinbergen und Jobcentern: gleicher Lohn für ungleiche Arbeit? Wenn das Schule machen würde!

Aber darum allein geht es ja nicht, sagt das Evangelium. Es geht darum, dass jeder Mensch in Gottes Augen eine große, unantastbare Würde besitzt. Die ersten ebenso wie die allerletzten. Und das ist doch wahrlich eine menschen-gerechte, Menschen liebende Ordnung, die ein Qualitätssiegel hat: Güte. Güte, die keinen verloren gibt.

Leave no one behind! Das ist nicht nur eine Forderung an Wirtschaftskonzerne, den Staat, die Politik und Arbeitgeberinnen aller Art, sondern an uns alle: ungebrochen solidarisch, weil jeder Mensch zählt, weil niemand zurückgelassen, ausgebootet oder ausgegrenzt werden soll – leave no one behind. Heißt: Um Gottes Willen müssen wir alles uns Menschen mögliche für die soziale Gerechtigkeit tun – alles andere würde das Recht des Schwächeren noch mehr schwächen! Ungebrochen wach bleiben, liebe Geschwister, für die Idee vom wahren Menschenrecht, das eine tiefe Achtung des Lebens – auch und gerade das meiner Nächsten – vor alles andere stellt!

Und zwar gerade weil das Unrechtsgefühl der ersten Tagelöhner heute viele Menschen umtreibt. Wir wissen, wie solch harte Arbeit etwa in der Pflege oder in den helfenden Berufen viel zu wenig entlohnt – und ja: auch gewürdigt wird. So viele, die vergangenen Winter nie gedacht hätten, dass sie den Gürtel so eng schnallen müssten. Ich bin ja ab November oft bei den Tafeln unterwegs gewesen und war wirklich berührt, wie immer mehr alte Menschen, aber auch Alleinerziehende und Familien in absolut prekären Verhältnissen leben, so viel sie auch arbeiten.

Besonders bitter ist das für die Kinder. Über 21 Prozent Kinderarmut in Deutschland ist doch eines so reichen Landes nicht würdig! Immer nur knapp auskommen, wenn überhaupt. Verzichten ohne Ende, kein Kino, keine Kultur, keine neue Jeans, kein frisches Brot. Das ist echtes, auch emotionales Elend.

Am Ende des Tages, liebe Geschwister, wird es darauf ankommen, uns nicht brechen zu lassen in unserer Geradlinigkeit. Deshalb ungebrochen solidarisch, mit Posaunen und Trompeten, haben wir die gemeinsame Aufgabe, zur ersten, dritten und elften Stunde, das Beste für die Menschen im Blick zu behalten: für die in unserer Stadt, die übersehen werden in ihrer Not. Für die Kinder in unserem Land, die nach Teilhabe verlangen. Für die Menschen in Europa, die um ihr Leben bangen in Diktatur und brutalem Angriffskrieg. Für sie in der Welt, die fliehen müssen vor Dürre und Klimakatastrophe, die sie selbst nicht zu verantworten haben.

Ungebrochen sehnsüchtig brechen wir heute also auf zur Demo. Denn so vieles drängt nach Veränderung. Drängt nach Aufbrüchen hin zu neuen Ufern. Es braucht dafür unsere Sehnsucht. Die Sehnsucht nach mehr, nach Größerem, ja nach Menschlichkeit, die tapfer bleibt.

Das Evangelium stimmt ein: Nichts, nichts ist vergeblich – keine noch so kleine Minute, die ich einstehe für Solidarität und Gerechtigkeit, gegen Krieg und Terror. Am Ende steht der volle Lohn im gütig-göttlichen Tarifgefüge! Für alle ein Silbergroschen. Für alle also wenigstens ein bisschen Lebensglück. Für alle ein Tag ohne Angst. Und ehrlich, könnten wir nicht unendlich froh sein, gerade jetzt wo uns so viel Unfrieden durchrüttelt, wenn wir dies Gleichnis auf den Frieden hin verstünden? Für alle doch wäre Frieden, egal, ob sie kurz oder lang, wenig oder viel für ihn gearbeitet oder gekämpft hätten – am Ende wäre Frieden für alle. Was für eine Aussicht!

Nein, am Ende des Tages wird gerade nicht abgerechnet. Da wird sich gewundert. Und gefreut. Weil Menschen gemeinsam auf die Straße gehen und zeigen, dass sie viel zu verschenken haben: Hoffnungskraft. Mut. Musik. Großzügigkeit. Für die ersten und die letzten auch.

Am Ende der Tage, liebe Geschwister, da wird nicht abgerechnet, da wird geträumt und geliebt und gesegnet und Frieden erfüllt die Erde. Gottes Frieden, der höher ist als all unsere Vernunft. Er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

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