Wenn die Mitverantwortung schweigend wartet
01. Januar 2015
Krippenandacht zum Neujahr, Predigt zur Jahreslosung Röm 15,7
Liebe Gemeinde,
einfach einmal angenommen… Einfach 'mal angenommen, Sie sitzen hier nun im Michel und sind's sehr zufrieden. Die Neujahrsnacht ist harmonisch gewesen – mit Freunden oder Fernsehen oder anders gemütlich, mit Sekt oder Selters. Und nun sind Sie hier. Die Stimmung: besinnlich. Wie auch nicht, bei diesem feinen Neujahrskonzert?
Es ist heute Neujahrskonzert auch im Leben. Heute erklingt der Grundakkord für das Morgen. "Wird´s besser, wird´s schlimmer? fragt man alljährlich." Und, mit Erich Kästner weiter: "Seien wir ehrlich: Leben ist immer – lebensgefährlich."
Gewitzt gesagt und wahr dazu. Denn unserem Leben haftet doch immer auch etwas Zerbrechliches an. Wir kennen Gefährdungen – wissen ja genau, wie wenig wir in den Dingen des Lebens, die wirklich zählen, etwas beeinflussen und planen können. Liebe, sie zuallererst – sie überfällt einen ja geradezu und ist wie Gesundheit und Glück unverfügbar. All dies ist ein Geschenk, theologisch gesprochen: eine Gnade. Gnade ist jede glückliche Geburt, im vergangenen oder im kommenden Jahr. Und Gnade ist – auch das gehört doch irgendwann zu unserem Wünschen – ein sanfter Tod. Alles nicht zu erzwingen. Doch allemal zu erhoffen.
Und so erfüllt einen ja gerade am Übergang zu diesen neuen 365 Tagen auch so etwas wie Demut. Treibt einen doch wirklich die Frage um, ob es im nächsten Jahr gut gehen möchte. Wieder so gut. Oder besser als in diesem Jahr, wer weiß, was manche von Ihnen durchgemacht und überstanden haben. Wer weiß, was manche gar voller Schmerz befürchten, oder bitte dies: voller Freude erwarten? Kurzum: Sekt oder Selters, beides ist heute in den Gläsern.
Einfach mal angenommen nun, Sie säßen heute nicht hier, sondern vor knapp zweitausend Jahren in Rom. In einer der ersten Christengemeinden. Und Sie hätten wieder einmal Post bekommen. Die lang ersehnte Epistel des Gemeindegründers Paulus umfasst 16 Kapitel. Nicht gerade eine Kurzschrift, schon gar keine SMS des Glaubens, sondern eine Kathedrale theologischer Briefliteratur.
Und dann liest man immerhin schon im Kapitel 15, worauf es Paulus besonders ankommt – eben die Jahreslosung des Jahres 2015: "Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob." (Römer 15, 7)
Dieser Appell des Apostels ist so deutlich wie nötig. Denn in Rom knirscht es im Gebälk. Man stritt sich hingebungsvoll um die richtige Lebensart eines Christenmenschen. Die einen sagen: Nur mit Sekt. Die anderen: nur mit Selters. Der eine glaubt, er darf bestimmte Dinge nicht essen oder trinken, dem anderen ist es schnurzegal. Keine Einigung in Sicht. Zu unterschiedlich die Vorstellungen. Traditionen. Wünsche.
Es ist wie im richtigen Leben. Dahinein spricht Paulus ein Machtwort: Maßstab ist nicht ein abstraktes Gesetz. Maßstab ist der oder die andere! Was den anderen Anstoß oder Ärgernis sein könnte, das soll man tunlichst vermeiden.
Der Appell nützt. Die Kontrahenten schütteln sich ein wenig und schauen einander an. So, als wäre es zum ersten Mal. Dabei sind sie ein wenig befremdet ob ihrer eigenen Zickereien. Ihres Neides. Ihrer Rechthaberei. Eigentlich wären sie anders, wenn man sie bloß ließe!!
Und in diesem Moment, als sie zu sich kommen, wissen sie, warum es ihnen so ergangen ist. Nehmt einander an – so tief ist diese Sehnsucht, einfach einmal angenommen zu sein. Auch mit der anderen Seite, die die anderen immer nicht sehen. So tief ist die Sehnsucht, dass man richtig, ganz gesehen, erkannt, anerkannt wird! Und zugleich schreckt man zurück. Denn: wer will schon abhängig sein von der Zuneigung anderer? Je unabhängiger, ja: je selbstbestimmter, desto unverletzlicher, desto mehr ist man vor unliebsamen Überraschungen gefeit – Selbstbestimmung ist für viele das Credo heute!
…Und ein Trugschluss, sagt Paulus schon damals. Denn ohne den Blick der Sympathie, ohne Mitgefühl und geradlinige Freundschaft, ohne das "Das bekommen wir schon hin!", ja, ohne Achtung und Liebeswort vergeht der Mensch. Der Mensch vergeht ohne aufmunterndes Zunicken, ohne das Streicheln von Fingerspitzen, er vergeht ohne die versöhnliche Geste, ohne die zärtliche Nähe wenigstens eines Menschen, der einen liebt und mag.
Und zwar so mag, wie man ist, heißt es ja allerorten. Doch wie „ist" ein Mensch eigentlich? Sind Sie immer so wie heute? Oder könnten Sie auch anders, wenn es erlaubt, gewünscht, gefragt wäre?
Bestimmt. Sagt auch Paulus. Wir hoffen unbeirrbar auf Veränderung. Und damit meine ich beileibe nicht die guten Vorsätze – sie haben ja oft eine gewisse Halbwertszeit. Ich meine vielmehr, dass jeder Moment, jede Begegnung, jede Freude, ja auch jeder Konflikt einen Menschen tatsächlich verändern kann. Dass er ihm Kraft geben kann und neue Einsichten. Eine neue Liebe, ein längst fälliger Abschied, eine neue Idee. Auch von sich selbst.
Für mich hat das ein Mensch, stellvertretend für ganz, ganz viele in Hamburg, auf den Punkt gebracht. Nach einem aufreibenden Jahr in ihrem Engagement für Flüchtlinge – mit Kleiderkammer, Dolmetscherdiensten, Behördengängen, neuen Freundschaften – sagte diese Ehrenamtliche im Blick auf all ihre Gäste aus anderen Herkunftsländern: "Es war für mich das aufregendste, anstrengendste und sinnvollste Jahr meines Lebens."
"Nehmt einander an" – als Menschen, die sich gegenseitig etwas zu geben haben. Damit auch diese Welt mit ihren alten Urteilen sich verändert. Und deshalb: einfach mal angenommen, die Jahreslosung würde in diesem Wahljahr 2015 eine entscheidende Richtschnur werden? Ein Wahlprüfstein für alle, die sich hier in Hamburg zur Wahl stellen?
Jeder Mensch will angesehen und angenommen sein. Es ist Menschenrecht. Wo das nicht geschieht, wachsen Angst, Hass und im Extremfall auch Gewalt. Das gilt zwischen Arm und Reich, zwischen Jung und Alt, zwischen Einwanderern und Einheimischem. Unsere Stadt soll und darf nicht in Parallelgesellschaften zerfallen, sondern muss ein lebendiges Gemeinwesen bleiben. Das schaffen wir nur durch Begegnung, Dialog, eben durch gegenseitige Annahme. Und es ist beileibe nicht nur die Aufgabe von Politik, Vereinen und Verbänden. Nein, Begegnung beginnt nebenan, in der Nachbarschaft. Bei uns selbst.
Erich Kästner (wieder einmal er!) hat dazu eine wunderbare Neujahrsansprache verfasst. Wohlgemerkt vor 65 Jahren. Doch sie könnte aktueller und treffender nicht sein. Ohnehin ist sie Literatur, die wir öfter hören und denken sollten. So erlauben Sie mir bitte, zum Ende meiner Neujahrsansprache die seinige in Auszügen ein wenig ausführlicher zu zitieren. "Neujahrsansprache an junge Leute":
"Rundheraus: das alte Jahr war keine ausgesprochene Postkartenschönheit, beileibe nicht. Und das neue? Wir wollen’s abwarten. Wollen wir’s abwarten? Nein. Wir wollen es nicht abwarten! Wir wollen nicht auf gut Glück und auf gut Wetter warten, nicht auf den Zufall und den Himmel harren, nicht auf die politische Konstellation und die historische Entwicklung hoffen, nicht auf die Weisheit der Regierungen, die Intelligenz der Parteivorstände und die Unfehlbarkeit aller übrigen Büros. Wenn Millionen Menschen nicht nur neben-, sondern miteinander leben wollen, kommt es auf das Verhalten der Millionen, kommt es auf jeden und jede an, nicht auf die Instanzen... Wenn Unrecht geschieht, wenn Not herrscht, wenn Dummheit waltet, wenn Hass gesät wird, wenn Muckertum sich breit macht, wenn Hilfe verweigert wird – stets ist jeder Einzelne zur Abhilfe mit aufgerufen, nicht nur die jeweils ‚zuständige’ Stelle. Jeder ist mitverantwortlich für das, was geschieht, und für das, was unterbleibt. Und jeder von uns und euch muss es spüren, wann die Mitverantwortung neben ihn tritt und schweigend wartet. Wartet, dass er handele, helfe, spreche, sich weigere oder empöre, je nachdem."
Soweit der kluge Dichter aus Dresden.
Handeln, helfen, sprechen, widersprechen – es wird auch in den kommenden 365 Tagen wieder viele Situationen geben, wo wir – je nachdem – entscheiden müssen, was wir tun. Und wie wir den Geist Christi in der Welt verbreiten – damit es ein Gnadenjahr für viele werde. Und einfach einmal angenommen, Sie erinnern sich dann an diese Krippenandacht und an das: "Nehmt einander an." Ganz so wie ein feines Echo, das wir in der Arie eben gehört haben. Zart soll es nachschwingen in uns mit seinem: Ja. Ja. Ja, du bist angenommen. Und das Gnadenjahr wird kommen. In Liebe zum Nächsten und zum Lobe Gottes.
Denn der Friede Gottes will doch bei jeder und jedem hier im Herzen ankommen, Friede, höher als alle Vernunft, er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Im ganzen neuen Jahr.
Amen