28. April 2019 | Dom St. Nikolai Greifswald

„Wer ist schon gerne Schaf? Jesu Hirtenwort als Einladung neu entdecken“

05. Mai 2019 von Hans-Jürgen Abromeit

Predigt zu Johannes 10, 11-16.27-30, gesendet Sonntag, 5. Mai, in der ERF Mediathek unter www.erf.de/gottesdienst, bei Bibel TV (ab 11.30 Uhr per Satellit und Kabel) und per App ("ERF Mediathek") außerdem zu hören im Radioprogramm ERF Plus (10, 14 und 22 Uhr über Digitalradio, Satellit, Kabel und App "ERF Radio")

 

Christus spricht: Ich bin der gute Hirte.

Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.
Der Mietling, der nicht Hirte ist,
dem die Schafe nicht gehören,
sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht
– und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie –,
denn er ist ein Mietling
und kümmert sich nicht um die Schafe.
Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen
und die Meinen kennen mich, wie mich mein Vater kennt;
und ich kenne den Vater.
Und ich lasse mein Leben für die Schafe.
Und ich habe noch andere Schafe,
die sind nicht aus diesem Stall;
auch sie muss ich herführen,
und sie werden meine Stimme hören,
und es wird eine Herde und ein Hirte werden.
Meine Schafe hören meine Stimme,
und ich kenne sie und sie folgen mir;
und ich gebe ihnen das ewige Leben,
und sie werden nimmermehr umkommen,
und niemand wird sie aus meiner Hand reißen.
Was mir mein Vater gegeben hat, ist größer als alles,
und niemand kann es aus des Vaters Hand reißen.
Ich und der Vater sind eins.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus!


Liebe Gemeinde!

Jesus nennt sich den einen guten Hirten. Das ist ein vertrautes Bild. Vertraute Worte: Jesus der gute Hirte, wir seine Schafe, der Wolf, der den Tod bringt und der schlechte Hirte, der die ihm anvertrauten Schafe im Stich lässt, weil es nicht seine Schafe sind und er für seine Arbeit nur bezahlt wird. Sagen sie uns heute noch etwas?

Ich erinnere mich an ein Bild im Schlafzimmer meiner Großmutter vor 50 Jahren. Da war Jesus als der gute Hirte zu sehen, mit einem Hirtenstab, ein Lamm auf dem  Arm und umgeben von vielen hübsch gemalten Schafen, sanft leuchtend in einer nächtlichen Landschaft. Ich empfand das schon als Kind abständig. Das war mir zu süßlich und kitschig. Das war Oma. Das war nicht ich. Erst viel, viel später habe ich verstanden, welche tiefe Wahrheit sich in diesem sehr zeitgebundenen Gewand verbirgt.

In der evangelischen Kirche begehen wir im Jahr 2019 das Karl-Barth-Jahr. Es erinnert an den vielleicht bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts. Vor 100 Jahren hat Barth – damals ein einfacher Schweizer Dorfpfarrer - durch die Auslegung des Römerbriefes Kirche und theo-logische Wissenschaft aufgeschreckt. Da nahm einer Gott radikal ernst. Er erhielt mehrere Rufe an evangelische theologische Fakultäten deutscher Universitäten, zuerst nach Göttingen, dann nach Münster und schließlich nach Bonn. Nachdem die Nationalsozialisten ihm die Lehrbefugnis an deutschen Universitäten entzogen hatten, ging er zurück in seine Heimatstadt Basel, wo er bis zu seinem Tode im Jahr 1968 lebte und lehrte. Er hat in einer Predigt über diesen Bibeltext von 1934 einen Satz gesagt, der als Schlüssel zum Verständnis dieses Wortes Jesu dienen kann: „Wir gehören doch nicht uns selbst, sondern wir gehören Jesus Christus unserem Herrn.“  Dieser einfache Satz machte für die, die Ohren hatten, zu hören, etwas Unerhörtes klar: Adolf Hitler war der Wolf, der den Tod brachte, und die Mietlinge, die bezahlten Hirten, auf die man sich im Ernstfall nicht verlassen konnte, das waren die Deutschen Christen, die ihren Mantel in den nationalsozialistischen Wind hingen.

„Wir gehören doch nicht uns selbst, sondern wir gehören Jesus Christus, unserem Herrn.“ Wie aktuell konnte dieses 2000 Jahre alte Wort vom guten Hirten plötzlich werden! Da war es über-haupt nicht mehr abständig. Da sprach es direkt in die damalige Situation. Ja, da hatte sich ein anderer zum Herrn aufgeschwungen und beanspruchte, die Instanz zu sein, die über Leben und Tod zu entscheiden hatte. Sechs Millionen Juden mussten das am Ende mit ihrem Leben bezahlen, aber auch viele andere, Menschen, die angeblich ein „unwertes Leben“ hatten, Millionen Russen, Polen und am Ende Millionen Deutscher. Ja, der Wolf ist gefährlich. Täuschen wir uns nicht. Am Anfang ist der Weg ins Verderben oft noch nicht zu erkennen. Aber der gute Hirte weiß, wo es lang geht. Wir, die Schafe, gehen leider manches Mal in die Irre.  

Es gibt ein untrügliches Erkennungszeichen des guten Hirten: Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. Er tut das, weil die Verbindung zu den Schafen so eng ist, weil sie ihm gehören. Dem bezahlten Aufpasser, dem Mietling (wie Luther übersetzt) ist das egal. Wenn es brenzlig wird, sucht er das Weite. Hirten, die dann, wenn es brenzlig wird, das Weite suchen, können wir nicht gebrauchen.

Bei meiner Einführung als Bischof der damaligen Pommerschen Evangelischen Kirche vor fast 18 Jahren hat mir auch Bischof Maghina, zu der Zeit Bischof unserer tansanischen Partnerkirche, die Hände zum Segen aufgelegt. Es war für mich sehr eindrücklich, wenn er davon erzählte, als er selbst Hirte gewesen ist. Als junger Mann musste er die Schafe und Ziegen seiner Familie hüten. Die Tiere waren der wertvollste Besitz der Familie. Da merkte er auf einmal, wie ein kräftiger Löwe sich seiner Herde näherte. Was tun, wenn man dann nur eine Steinschleuder und ein Messer hat? Ein junger Mann gegen einen ausgewachsenen Löwen? Wäre es nicht klüger, zu machen, dass man fortkommt? Der junge Maghina entschied sich, taktisch vorzugehen. So lockte er ihn von der Herde fort und konnte den Löwen von der Herde ablenken. Mehrere Male hatte er eine riesige Angst, dass der Löwe schneller sein könnte als er. Am Ende hat er den Löwen vertrieben. Eine Herde braucht einen Hirten, der sich für sie einsetzt.

Ja, auch unser Hirte, Jesus Christus, hat sein Leben für seine Schafe eingesetzt. Gradlinig, zu gradlinig, stark, zu stark den Menschen zugewandt und mit einem Herz für die Sünder und die Ausgegrenzten, ist er nicht von Jerusalem gewichen, als man ihm vorwarf, Gott sei nicht so, wie er es lehre und lebe. Als man ihn, der einen Gott der Liebe und der Wahrheit verkündigte, der Gotteslästerung und des Hochverrates anklagte, hat er sich nicht abgesetzt, sondern sich der Anklage ausgesetzt. Er ist nicht geflohen, sondern hat sein Todesurteil auf sich genommen. Da starb ein Unschuldiger an Stelle all der Schuldigen. Man suchte einen Sündenbock und Jesus hat diese Rolle freiwillig akzeptiert. Weil er die Sünde der Menschheit auf sich genommen hat, können wir alle frei von Sünde werden. Dieser Hirte hat sein Leben für die Schafe gelassen. Das Kreuz auf Golgatha ist dafür das Zeichen.

Weil er sein Leben für unseres gegeben hat, gehören wir ihm. „Wir gehören doch nicht uns selbst, sondern wir gehören Jesus Christus unserem Herrn.“ Weil wir ihm gehören, kennt er uns und wir kennen ihn. Er meint es gut mit uns. Er gibt uns das ewige Leben. Es ist eine unglaubliche Bereicherung, zu wissen, dass mit dem Tod nicht alles aus ist. Wir kennen seine Wesensart und können darauf vertrauen, dass mit Jesus Gott auf unserer Seite ist. „Niemand wird sie aus meiner Hand reißen“(V. 28).

„Wir gehören doch nicht uns selbst, sondern wir gehören Jesus Christus unserem Herrn.“ Aber ist das nicht eine neue Unfreiheit? Viele möchten keinen Herrn haben. Sie möchten klar ihr eigener Herr, ihre eigene Frau sein. Keiner soll einem in das Leben hereinreden. Ja, vielleicht ist das heute der wichtigste Grund, weswegen Menschen lieber nicht als Christ leben wollen. „Ich brauche keinen Herrn!“

Aber das ist eine Selbsttäuschung. Irgendeiner greift immer nach Ihnen. Und dann kommen wir schnell an unsere Grenzen. Es kann eine Krankheit sein, die Ihnen den Mut und die Hoffnung nimmt. Manchmal kommt alles auf einmal. Dann tut es gut, diese Stimme zu hören, die vertraut ist und Kraft schenkt. Blockiert durch großes Leid, ist es eine große Befreiung, zu wissen, ich bin nicht allein. Da ist einer, der kümmert sich. Auch Herr Knüppel hat die Bindung an Jesus Christus als Freiwerden erfahren, ein Freiwerden vom Alkohol und all den damit einhergehenden Einschränkungen. Da bekommt das Bekenntnis zu einem Herrn einen ganz anderen Klang. Einen guten Hirten zu haben, ist dann der Beginn der Freiheit. Endlich werde ich nicht mehr von meiner Sucht getrieben, sondern kann wieder selbständig mein Leben planen. Es ist ein Paradox. Den Herrn Jesus Christus zu haben, eröffnet Freiheit. An Gott zu glauben, macht stark.

Ja, es stimmt: Bei anderen Herren ist das nicht so. Menschliche Herren üben ihre Macht zu ihren Gunsten aus. Es gibt viele schlechte Hirten, aber nur einen guten. Schon der Prophet Hesekiel sagte: „Nur Gott ist der gute Hirte. Niemand anderem dürfen wir uns so anvertrauen.“ Der gute Hirte entfaltet unser Leben. Er führt uns zum frischen Wasser, heraus aus dem dunklen Tal. Wie wir es mit dem alten Psalm gesprochen haben: „Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang“ (Psalm 23, 6).

So hat es auch Frau Tahery erfahren. Ihre alte Religion, der Islam, war für sie Zwang und Ge-setz. Als sie die Botschaft Jesu, des guten Hirten, hört, ist sie tief berührt und lernt Gott völlig neu kennen. Sie ist erschüttert von diesem Gott der Liebe. Jesus selbst hatte ja gesagt, dass er noch andere Schafe hat, die nicht aus diesem Stall sind und die er herführen muss. Immer wieder hat die Christenheit erfahren, dass da noch andere sind, die zu der Herde dieses guten Hirten noch dazu gehören. Zu neutestamentlichen Zeiten ist die frühe Christenheit aus dem Judentum aufgebrochen und hat viele Menschen aus den nichtjüdischen Völkern, den sogenannten Heidenvölkern, dazugewonnen. Und immer wieder hat die christliche Kirche Christen in anderen Völkern und Kulturen entdeckt und hat gemerkt: Das sind ja unsere Schwestern und Brüder. Heute sind es viele Migrantinnen und Migranten, die Jesus als ihren guten Hirten ganz neu entdecken. Und es wird ihnen oft schwer gemacht, bei der Herde, zu der sie ja gerade erst gestoßen sind, zu bleiben. Staatliche Gerichte erkennen eine Bekehrung zu Christus in der Regel nicht mehr als Abschiebungshindernis an. Das setzt die neuen Christen, wenn sie in ihr muslimisches Land zurück müssen, großen Gefahren aus. Als frühere Muslime können sie dort ihren Glauben nicht leben, werden benachteiligt, bedroht und sind ihres Lebens nicht mehr sicher. Da gibt es neue Schafe in der Herde, aber diese werden von der Herde mit Gewalt getrennt und müssen um ihr Leben fürchten. Andere stehen täglich in Lebensgefahr. Es stünde Deutschland und ganz Europa gut an, die Schafe aus dem anderen Stall bei uns aufzunehmen und nicht den Wölfen auszuliefern.

Liebe Gemeinde, das Bild des guten Hirten ist nicht so anheimelnd und süßlich, wie ich das Gemälde aus dem Schlafzimmer meiner Großmutter empfunden habe. Leben ist nicht nur pas-tellig und goldgerahmt. Wir haben in diesem Gottesdienst von einigen Lebensschicksalen ge-hört. Und jedes Leben ist anders. Es hat Höhen und Tiefen. Und genau in dieses volle Leben greift der gute Hirte. Er ist ja dafür da, im wirklichen Leben zu helfen, Leben zu retten und Menschen vor dem Untergang zu bewahren. Wer es einmal erfahren hat, kann es nachempfinden, welche Freiheit diese Wahrheit schenkt, die Karl Barth so zusammenfasste: „Wir gehören doch nicht uns selbst, sondern wir gehören Jesus Christus unserem Herrn“.
Amen.

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