18. Juni 2012 - Kirchegemeinde Hohenwestedt

Wie viel Religion braucht die Gesellschaft?

18. Juni 2012 von Kirsten Fehrs

Liebe Hohenwestedter, liebe Schwestern und Brüder!

Wie schön, wieder einmal in Hohenwestedt zu sein! Danke für die Einladung sagen Karsten und ich, denn wir denken wirklich sehr gern an die Zeit hier zurück. Wir wissen uns mit etlichen eng verbunden durch Höhen und Tiefen hindurch, durch Singen, Beten, Gitarren, Taufen, durch Gemeindefeste, Basare, Literatur -, Frauen– und Männergruppen, durch Künstlerisches und Biografiearbeit – gute Güte, was ist die Zeit reich gewesen!

Das fällt einem ja manchmal erst nach einem Abstand auf – und als ich mich auf diesen Vortrag vorbereitete, hat es mich mit großer Dankbarkeit erfüllt, wie viel wir von Ihnen und Euch mitnehmen durften. Und Karsten geht es ebenso. Wir empfanden die Zeit hier in Hohenwestedt als Segen. So ist es keine Floskel, wenn ich danke für die Einladung und Deine außerordentlich freundliche Einleitung, liebe Renate Tank. Und so ist die Erfahrung von Segen das Erste vor allem anderen: Segen, den ich auch Ihnen und Euch von Herzen wünsche. Für den Weg, den Sie gehen und gehen müssen und auf dem wir heute Abend gewissermaßen gemeinsam eine kleine Rast einlegen. Überhaupt: Segen ist mit das Wichtigste, was Kirche und Glauben einem geben können: diese Zusage, die heißt: Wees man nich bang. Diese Erfahrung, gestärkt und aufgerichtet zu sein durch eine Kraft, die gerade nicht aus uns selbst herauskommen kann. Und so bin ich schon mitten drin in meinem Vortrag.

Wie viel Religion braucht die Gesellschaft? Eine Frage, die mich schon deshalb beschäftigt, weil es „wie viel“ heißt. Nicht allein ob, sondern wie viel - typisch für unsere Gesellschaft, mögen Sie sagen. Ist doch deren Leitmotiv, was „es“ „mir (nicht) bringt“. Und so kreisen persönliche und politische Themen immer wieder ums „Wie viel“:

-         wie viel Einkommen man hat und wie viel einflussreiche Freunde;

-         wie viel Gewinn wer gemacht hat,

-         wie viel Kilos man wiegt und mit wie viel Toren Deutschland die EM gewinnt,

-          wie niedrig die Zinsen, und wie hoch Hartz IV ist – gemessen wiederum an dem errechneten Verbrauch der 15%  Geringstverdienenden – und so weiter und so weiter…

Wir leben in einer Welt der Quantität. Wert und Selbstwert werden bemessen. Gleichzeitig wissen wir alle, dass die Fragen, die uns wirklich umtreiben, tiefer gehen. Existentieller sind. Die Quantität trifft nicht das Eigentliche. Im persönlichen Leben ebenso wenig wie bei den gesellschaftlich brisanten Themen. So ist die Frage nach Religion – nach einer Kategorie also, die per se unermesslich und tiefgründig alles sprengt, was wir denken können – eine Bewegung der Qualität, eine Suche nach dem Eigentlichen.

Ich erlebe, dass viele Menschen suchen. Und auch wenn sie es anders nennen, wage ich die Behauptung: Sie suchen, was zugleich Ziel und Schatz unserer Religion ist, nämlich die Qualität von Leben. Lebensfreude. Oder theologisch: Herrlichkeit. Kurz: Das, was einen morgens zuversichtlich aufstehen lässt und am Lebensabend zufrieden gehen. Wie viel Religion braucht die Gesellschaft – das Thema bewegt deswegen Gläubige aller Religionen genau so wie Atheisten, Zweifler und Kritiker. Dabei wird viel darüber gerätselt, ob es denn nun tatsächlich etwas auf sich habe mit dem neu erwachten religiösen Interesse oder gar einer Renaissance kirchlicher Rituale.  Dies allerdings oft unausgesprochen mit dem inneren Bild, dass da eben nicht viel ist.  Dass einem – speziell in der evangelischen inszenierungsspröden Kirche – leere Kirchenbänke, trostlose Worthülsen und müder Gesang entgegen gähnen.

Glücklicherweise sind Sie, liebe Hohenwestedter ja heute das beste Gegenbeispiel.

Mein Vortrag ist ein Versuch, hinter diese Klischees zu schauen und den Dingen hinter den Dingen auf die Spur zu kommen. Denn sie sind es, die uns in unserem Leben am meisten berühren, weil sie uns wert und teuer sind. Liebe, Freundschaft, Ehre, Trost, Klarheit.  Alles „Dinge“, die man nicht kaufen, verwerten, ja die man nicht erklären kann und die uns vielleicht bis ans Lebensende ein Geheimnis bleiben.

Und so komme ich nach dieser Einleitung zu dem ersten der vier Themen im Thema:

 1.     Religion und Werte

In der Wertedebatte des letzten Jahrzehnts hat man die Religion – vorzugsweise in Gestalt der Kirchen – als die Instanz verstanden und herausgefordert, die für die Vermittlung und den Erhalt menschlicher und gesellschaftlicher Werte zuständig sei. Basieren doch die abrahamitischen Religionen (Judentum, Islam, Christentum) auf dem generell anerkannten und ältesten Wertekanon: den 10 Geboten. Unantastbar sind hier das Leben, die Liebe, die Achtung, die Würde, das zur Ruhe kommen – auch und gerade am Sonntag. Unantastbar ist das Eigentum, besonders das des anderen, versteht sich.

Interessant an der lang geführten Wertdebatte der letzten Jahre finde ich, dass sie eigentümlich diffus, ja fleischlos geblieben ist. Das mag daran liegen, dass der Wertebegriff kein klassisch christlicher, sondern letztlich ein ökonomischer Begriff ist. Werte verstanden als Handelsgegenstände, die man herstellt und eintauscht, sind etwas Schwankendes. Also gerade nicht prinzipiell oder grundlegend ethisch. Anders wird es, wenn man nach dem Eigentlichen fragt. Wenn Menschen darüber ins Gespräch kommen, was ihnen persönlich wert ist. Oder, um es in religiöser Sprache zu formulieren, was ihnen heilig ist. Dann wird es lebendig, kräftig, klar. Was ist uns heilig oder - so die Übersetzung des Begriffes aus dem Hebräischen – unantastbar? So wertvoll, dass wir es schützen würden um jeden Preis?

Diese Frage ist für unser Thema zielführend. Denn erst mit der Rückbindung an das Eigentliche –der Re-ligio – erreicht man den tieferen Ernst, mit dem der Mensch sich einsetzt für das Leben und die Würde im Alltag. Werte und Lebensqualität, das ist meine These, sind etwas höchst Persönliches. Sie bestehen eben nicht allein aus einem normativen Wertekanon, der von außen an einen heran getragen wird. Werte und damit verbunden wirkliche Lebensqualität hängen vor allem davon ab, dass jeder Mensch hier sich selbst ein Herz fasst und sich entscheidet. Sich einsetzt. Weil etwas oder jemand unbedingte Priorität hat. Unantastbar wertvoll ist. Und um dafür eine Sprache zu finden und Verständigung zu erzielen, ist Religion, ist Kirche auch als Institution in unserer Gesellschaft unverzichtbar.

Und also: Was ist Ihnen, was ist uns heilig?

Ich vermute: Ihnen kommt zunächst und spontan die Familie in den Sinn, das gerade geborene (Enkel)Kind, die Partnerschaft, die Sinnhaftigkeit im Beruf, Vertrauen, Freundschaft. Ganz wichtig auch die Dankbarkeit. Und dann mögen Sie auf den Mittagsschlaf oder erste Tasse Kaffee am Morgen gekommen sein und zugleich gedacht haben: „Nein, also das ist mir wichtig, aber heilig? Ist das nicht zu profan?“ Mitnichten – denn es sind alles Dinge und Ereignisse, die die Kraft haben, selig zu machen. Ruhe zu geben. Und sei es nur für einen Moment. Glücksmomente eben, die man nicht bestellen, die man nur empfangen kann.

So davon zu reden, was uns heilig ist, halte ich für eine lebenswichtige Übung für eine humane Gesellschaft. Denn wir stellen auf diese Weise eine Verbindung her zu unserem Innersten und damit zurück zu dem, was oft nur verschüttet da ist: dem Vertrauen, dass es gut ausgeht. Dem Vertrauen also, dass es eine Macht gibt, außerhalb meiner selbst, die mich schützt - auch vor meinem eigenen Misstrauen. Eine Macht, in deren Wirksamkeit ich eingebunden bin. Auch hier wieder die Rück-bindung,  re-ligio: nämlich zu Gott hin, der Glück schenkt, das nicht von dieser Welt ist. Der es mit aushält, dass es gerade in den kritischen Situationen unseres Lebens keine leichten Lösungen gibt.

Szenenwechsel:

 „Heilig ist die Liebe“, antwortet mir der Alevit auf meine Frage.  „Sie ist größer, als der Mensch denken kann, und vermag deshalb seinen Blick auf die anderen zu verändern. Und so ereignet sich Gott in der Mitmenschlichkeit.“  Der Alevit weiß, was ihm heilig ist. Und er redet darüber. Um uns herum klappert Besteck und klirren Gläser. Wir befinden uns in einem Restaurant in Berlin: Frauen und Männer muslimischen, syrisch-orthodoxen, alevitischen, katholischen, gar keines Glaubens. Geschäftsleute meistenteils, Imame darunter, die meisten aus der Türkei – und eine Evangelische, ich. Eingeladen vom Hamburger Senat waren wir auf den Weg geschickt, europäische Politik in direkter Anschauung kennenzulernen. Heraus kam eine Weggemeinschaft, die viel mehr teilte als eine Strecke: Wir erzählten von uns. Davon, was wir glauben. Was wir nicht glauben. Was uns trägt und was uns verzweifeln lässt. Was uns wert, heilig ist.

Und mir wird bewusst, wie selten solch (inter)religiöse Gespräche gelingen. Denn unglücklicherweise fehlen nicht nur uns Christen zunächst die Worte. Wir wissen gar nicht mehr, was wir sagen können. Das hat zum einen mit dem Traditionsabbruch zu tun. Doch ich glaube, es geht noch darüber hinaus. Letztlich spüren wir in unserem Innersten, dass das Heilige mehr ist als die Formulierung von Werten; es ist etwas an die Grenze reichendes, etwas Unfassbares, Unverfügbares, Vollkommenes, dem man sich rational wie sprachlich nur unvollkommen nähern kann. Dennoch: Seit diesem Mittagslunch in Berlin habe ich Menschen begonnen zu fragen, was ihnen heilig ist. Und ich bin beeindruckt, was sie mir nach anfänglichem Zögern erzählen. Ich höre, dass wir wieder Mitgefühl einüben, mit Schuld offen umgehen sollten. Ich höre, dass Nächstenliebe das wichtigste ist und dass wir etwas tun sollten gegen Armut und Bildungsnot. Ich höre von der Suche nach Gemeinschaft und Wahrhaftigkeit. Ich höre die bange Frage nach den ersten und den letzten Dingen, danach, wie es denn ist beim und nach dem Sterben. Und ich höre ganz oft, gerade von manch erfolgreichem Manager und Geschäftsmann die pragmatische Ansage: Was brauchen Sie? Welche Arbeit in Ihrer Kirche kann ich unterstützen? Nächstenliebe life, auch wenn es anders genannt wird.

Ich als Christin höre in all dem die Sprache Jesu, der gesagt hat, dass unser Leben eine Freude sein möge, wie die Hochzeit zu Kana. Ich höre Jesus, der gezeigt hat, dass es zur menschlichen Würde gehört, Schuld und Scheitern zuzugeben. Der die Menschen erreicht hat - nicht mit heiligen Zeremonien, sondern mit der Sprache des Herzens, die berührt.

Deshalb braucht die Gesellschaft Religion: Dass wir berührbar bleiben für das wirklich Wertvolle. Dass wir die Sprache des Herzens wieder üben. Eine Sprache, die uns deuten kann, was wir erleben, mitunter erleben müssen, und allzu oft nicht verstehen. Dazu müssten wir wieder mehr, ohne Scham davon reden, woran wir glauben. Was uns tröstet. Und ebenso, was nicht mit der christlichen Botschaft vereinbar ist. Selbstkritisch möchte ich dazu sagen: Wir in der Kirche haben aus Furcht, den Zeitgeist samt seiner Anhänger zu verpassen, zu oft die bekömmlichen Seiten christlicher Botschaft herausgestellt und die schwierigen, anstößigen versteckt. Wir wollten modern sein und waren stattdessen entweder stumm oder opportunistisch. Wie Christen einst Waffen segneten, so neigen wir heute bisweilen dazu, dem allseits Üblichen unter der Hand unseren Segen zu erteilen. U-Bahnen, alles was recht ist, kommen sicherlich auch ohne Weihwasser und Segnung auf die Spur.

Nicht unbedingt aber all die Menschen unterschiedlichster Couleur, die in dieser U-Bahn unterwegs sind. Oder auf den Straßen hier. Und die vielfach ein gebrochenes Verhältnis zur Religion – oder besser: zur Institution Kirche - haben. Und so komme ich zum 2. Abschnitt:

2.     Religion und Institution – Religion und Kirche

In Dithmarschen, woher ich stamme, ist sie ein Muss. Unbedingt muss die Kirche im Dorf sein – und bleiben. Man erachtet sie sogar als so wichtig, dass man sie intensiv schont.

 

Sie muss da sein, aber gleichzeitig bleibt man zu ihr in Distanz. Sie muss da sein, um vor allem in Notzeiten auf sie zurückgreifen zu können. Um Halt zu bekommen und Segen. Sie muss auch da sein, um die Schwellensituationen im Leben, die ja immer auch kleine Krisen in einer Familie sind, zu begleiten: bei der Geburt, in der Pubertät, der Partnerschaft, beim Altwerden, beim Sterben.

Kurz: Sie muss an solchen Momenten da sein, wo der Mensch Segen braucht. Zuversicht. Klarheit. Kraft.

Sie muss da sein, aber man möchte sie nicht brauchen müssen.

Diese Ambivalenz prägt das Verhältnis von Religion und Gesellschaft. Denn religiöse Fragen sind immer existentielle Fragen. Kritische Fragen. Gleich, ob sie einen in der persönlichen Biografie betreffen oder gesellschaftlich relevant sind. Sie haben immer etwas zutiefst Ernsthaftes, ja manchmal auch Belastetes. Es geht darum, Grenzsituationen zu überstehen, zu verstehen. Wenn man jung ist und erwachsen wird. Oder wenn man alt wird und sich auseinandersetzen muss mit den Grenzen des Körpers. Wenn man Abschied nehmen muss und der Neubeginn noch nicht in Sicht ist. Religion scheint allemal etwas für die Mühselig und Beladenen. Und dazu mag man nicht gern gehören. Darüber redet man nicht gern. Schon gar nicht im Dorf, in der Gesellschaft.

Doch – so meine These, auf die der Vortrag hinzielt – genau in diesem Sinne gehört Kirche ins Dorf, gehört Religion in die Gesellschaft: Dass sie einen Raum bietet für all das Nichtsagbare, das Tabuisierte, das, was einen hin-und herreißt, für all die Dilemmata, die ja bekanntlich niemals leicht zu lösen sind. Es braucht dringend einen Raum für die Warum-Fragen, die nirgends eine Antwort finden. Einen Raum zum Seufzen, zur Klage, zur Anklage. Wo sonst findet man ihn sonst noch? Religion bietet Raum zum Gespräch, das dankenswerterweise viel mehr kennt als Worte. Sie kennt das Gebet, das Ritual, das Licht, die Musik. Ich habe es in der Seelsorge häufig erlebt, und davon lebt auch mein Glaube: Erst wenn ich die Mühseligkeit, wenn ich (christlich eben!) das Kreuz nicht umgehe, sondern anschaue, erst dann steht auch wieder vor Augen, was davor oder dahinter stets gestanden hat bzw. was einen (wieder) aufstehen lässt: die Heiterkeit und die Kraft und die fraglose Hingabe, die Erleichterung.

So ist Religion ein wichtiger Sprachraum für das, was einen existentiell angeht.Und dies gut protestantisch im Dialog. Unsere Kirche steht dafür, dass Unterschiede benannt, aber nicht abgewertet werden müssen. Dass man den Mund aufmacht, wenn die Würde eines anderen Geschöpfes mit Füßen getreten wird. Dass man der Wahrheit nur mit Ehrlichkeit nahe kommt. Und damit bin ich beim 3. Abschnitt:

3.     Religion als Sprachschule der Gesellschaft

Es braucht dringend Räume für den ehrlichenDiskurs in einer Gesellschaft, die angesichts der Kulturen- und Religionsvielfalt um Identität ringt. Zur Identität einer Gesellschaft gehört es, dass sie ein Verhältnis zu ihrer Religion, zu den vorhandenen Religionen gewinnt, dass sie sich mit ihnen befasst. Demgegenüber erlebe ich unsere Gesellschaft als eine, in der viele Kulturen und Religionen und Konfessionen faktisch nebeneinander leben, aber viel zu wenig voneinander wissen, um friedlich zu bleiben. Die affektgeladene Stimmung, sobald es insbesondere um den Islam geht, ist ein alarmierendes Zeichen, das mich bestärkt in meiner These. Es muss dringend etwas getan werden, dass wir wieder mehr verstehen von uns selbst, der Friedensliebe unserer eigenen Religion, damit wir der Friedensliebe der anderen Religionen mehr zutrauen.

Dabei ist entscheidend, dass nicht nur geredet wird – interreligiöser Dialog braucht nicht nur gesetzte Grußworte. Sondern identitätsstiftend ist mindestens ebenso das gemeinsame Essen wie eben beschrieben, die gemeinsame Erfahrung und die Begegnung im Alltag. Eine, die die sinnstiftende und tröstliche Kraft der Religion in das hineinträgt, was die Menschen unmittelbar angeht.

Ein Beispiel dazu. In Hamburg haben wir inzwischen schon das zweite Mal eingeladen zu einem Gedenkgottesdienst für Suizidgestorbene. Die Angehörigen sind in einer besonders tragischen Trauer – kreisend um ein Warum, das keine Antwort kennt. Letztes Jahr gelang es, dieses Gedenken in unserer Kirche interreligiös zu gestalten, nicht nur der Gottesdienst, auch die Vorbereitung dessen war so unerhört eindrücklich, weil eben nicht die Religionen thematisiert waren (warum wir dies tun und jenes lassen), sondern weil Vertreter aller Religionen gemeinsam eines wollten: Den Menschen Trost spenden. Hoffnung geben. Der Klage und der Trauer Raum geben. Und so wurde die arabische Klageflöte umrahmt vom hebräischen Psalm, der Imam zitierte die Sure in einer evangelischen Kirche, der Buddhist leitete die Lichterprozession ein, der Rabbi „von guten Mächten wunderbar geborgen" und wir Christen hielten den Rahmen.

Damit in diesem Sinne interreligiöse Begegnung lebt, ja alltagstauglich wird, gehört eines unbedingt dazu: Nämlich dass man die mitunter schwere Aufgabe hat, im eigenen Haus aufzuräumen, heißt: den  fundamentalistischen Ausartungen aller Couleur und der zunehmenden Intoleranz gegenüber Fremden entschieden entgegen zu treten. Denn diese Intoleranz, liebe Schwestern und Brüder, nimmt beharrlich und erschreckend Einzug in unsere Wohnzimmer. Wir Christinnen und Christen haben die Aufgabe, dem mit Courage entgegen zu treten. Gegen rechtsradikales Gedankengut. Gegen Geschichtsverdrehung. Gegen Islam- und Fremdenfeindlichkeit. Für diese innere Haltung von Toleranz braucht es auch guten Religionsunterricht - das sage ich besonders in Richtung des neuen Koalitionsvertrags in Schleswig-Holstein: Denn im RU lernt das Kind, was uns und dem anderen heilig ist, lernt Nächstenliebe auch den Fremden gegenüber. So wie es folgende kleine Begebenheit auf den Punkt bringt: Freunde von mir haben vor einigen Jahren in Simbabwe gearbeitet. Ihr kleiner Sohn, damals 4 Jahre alt, hatte es anfangs schwer, sich einzugewöhnen: Im Kindergarten schaute er verblüfft auf die vielen weißen wie schwarzen Kinder, die immer etwas sagten, was er nicht verstand. Und umgekehrt schauten die anderen ihn erstaunt bis feindselig an, wenn er sich verständlich zu machen versuchte. Nichts wünschte er sich sehnsüchtiger als einen Freund. Eines Mittags kommt er aufgeregt nach Hause und erzählt seinen Eltern, dass er nun endlich einen Freund gefunden habe. Ob er denn genauso alt sei und was die Eltern machten, erkundigten sich unsere Freunde einfühlsam. So nach und nach – schließlich ist man progressiv und frei von Vorurteilen – fragten sie dann auch, ob sein Freund denn weiß sei oder schwarz? „Woher soll ich denn das wissen?“, fragt ihr Sohn empört zurück. „Er ist doch mein Freund!“

4.     Einübung einer Haltung: Nächstenliebe

Darum geht es der Religion. Bei all dem Gutmenschen-Gerede, das immer suggeriert, als würden Menschen vieles gut meinen, schlecht machen, das dafür aber umso grandioser zu finden, bei diesem Gerede gerät aus dem Blick, dass wir mit unserer Religion zentral einstehen für das: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Und das ist mehr als Tat. Das ist eine Haltung. Nämlich mit dem Guten zu rechnen, unverdrossen. Mit dem Guten zu rechnen auch bei den schlecht Riechenden. Das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter erzählt viel von dieser inneren Haltung. Sie umfasst dieser Geschichte nach zwei Bewegungen: Die eine geht aus dem Samariter heraus – raumgreifend und impulsiv –, das ist die Liebe. Sie erfasst den Menschen. Überfällt ihn. So positiv unvernünftig. Liebe meint, berührbar zu bleiben von dem Jammer eines anderen. Nicht zu fragen, ob der, der da liegt, nicht doch irgendwie selbst schuld ist? Denn die andere Bewegung, die unbedingt zur Liebe gehört, ist das Absteigen vom Esel. Das Herunterkommen vom Esel der Perfektion. Das Absteigen steht für den Verzicht auf die eigene Bedeutung, die eigene Macht, die Unversehrtheit, die eigenen Ansprüche. Das Absteigen ist Statusverzicht. Dieses aufregende Modell der Mitmenschlichkeit spiegelt wider, was Zentrum unseres Glaubens ist. Nämlich dass Gott als der heftig Liebende hinabsteigt in die Niederungen menschlichen Lebens. In aller Konsequenz. Und so ist es keine Moral, die uns sagt, was gut ist. Sondern ein Glaube. Eine Gottesvorstellung. Absteigen und Herabbeugen vor lauter Liebe – die Tradition nennt es humilitas. Niedrig sein. Wir haben auf der Erde, Humus, zu bleiben, sozusagen auf dem Teppich. Nur indem wir dort unten bleiben, mit Verstand und Gefühl, verstehen wir, was andere bewegt und was zu tun ist. Wir werden nichts von der wirklichen Armut – auch hier in Hohenwestedt - erfahren, wenn wir oben bleiben. Wir werden keinen aus einem anderen Kulturkreis verstehen, den wir nicht anschauen oder gar ablehnen. Mehr noch: Will man wirklich jemanden aufrichten, der gefallen ist, muss man sich hinknien und sich unter den Verwundeten begeben. Nur von ganz unten vermagst du ihn aufzuheben. Die Heilung oder die Pflege eines Menschen verlangt einem viel ab, viele hier wissen das aus eigener Erfahrung. Vor allem aber fordert sie Ehrlichkeit. Auch die gegenüber den eigenen Grenzen.

Das ist für mich elementar: Das christliche Bild des Menschen lehrt uns die Akzeptanz des Menschlichen. Dass wir eben nicht vollkommen sind. Im Gegenteil. Gut so.

Ich komme zum Schluss:

„Hände hoch, oder ich küss dich!“ 

Das ist jetzt keine bischöfliche Avance, liebe Schwestern und Brüder, sondern ein wunderbar provokantes Lied. Es könnte auch heißen: Unterschätzt nicht die Gehandicapten, die Kleinen, die ein wenig Schrägen. Unterschätzt nicht die positive Kraft der – angeblich! -Benachteiligten in unserer Gesellschaft der Sieger. Es könnte dich das Leben kosten. Überraschend ließ sich das jüngst auf einem sehr steifen Senatsempfang lernen. Da haben „Rosi und die Knallerbsen“ innerhalb kürzester Zeit den Saal aufgemischt. Haben uns mit einer Lebensfreude überwältigt, die jegliches Protokoll aus den Angel hob – und das muss man erst einmal schaffen!

 Die Knallerbsen sind eine Band junger Männer und Frauen mit Behinderungen – hochmusikalisch, mit nachdenklichen Texten, rockender Blockflöte und einer faszinierenden Kindnähe. Und als Hanne mit Down-Syndrom, vor allem aber mit Strassgürtel und Seidenbluse empört vergnügt ins Mikrofon ruft: „Ihr da müsst aber auch MITMACHEN!“, war´s um alle geschehen. Sie haben uns inkludiert: Eine hinreißende Umkehrung der Verhältnisse. Aus Zuschauern wurden Mitstreiterinnen der Lebendigkeit. Prägnanter lässt sich die Botschaft des Evangeliums nicht erden!

Darum geht es in der Religion in dieser Gesellschaft. Dass es ein Glück, ein Segen ist, ja selig macht, die Verschiedenheit zu leben und sie schön zu finden. Dass wir MitstreiterInnen werden von Toleranz, Courage, Nächstenliebe - kurz: für Lebensqualität. Religiösität holt uns heraus aus der Zuschauerrolle und rechnet damit, dass wir eben alle mitmachen!

Keine Frage, wie sehr die Gesellschaft die Religion braucht, oder?

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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