14. Mai 2018 | St. Marien zu Lübeck

„Wir haben selber gehört und erkannt“

14. Mai 2018 von Gerhard Ulrich

Grußwort auf dem Kongress mit Theologinnen aus dem Ostseeraum, Wege der Schriftauslegung

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder in Christus,

I

ich freue mich, Sie alle hier in der Lübecker Marienkirche begrüßen zu können zu einem Kongress, der Frauen und Männer, Theologinnen und Theologen aus vielen Anrainerstaaten der Ostsee zusammenführt. Aus dem geographischen Raum also, den die Reformation und die aus ihr entstandenen Kirchen in besonderem Maße  kulturell geprägt haben.

Das Thema ihres Kongresses heißt „Wege der Schriftauslegung“. Der Plural in dem Titel ist sachgemäß und wichtig. Sie wollen „die Auseinandersetzung um die sachge­rechte Auslegung der Bibel entschlossen weiter vor­antreiben“. Und diese Auseinandersetzung um die Schriftauslegung, um die pluralen Wege ihrer Deutung ist keineswegs erst ein Kennzeichen der gegenwärtigen kirchlichen Situation. Das hat das Christentum von Anfang an begleitet. Diese Auseinandersetzungen finden wir schon im Neuen Testament selbst. Gerade bei Paulus. Im 2. Korintherbrief berichtet er, wie ihm in seiner neu gegründeten Gemeinde  „Überapostel“ ((11,5; 12,11) entgegentreten. Aus der Position vermeintlicher Überlegenheit werfen sie ihm vor, er sei schwach und seine Rede ist kläglich. Angepasst wäre er, ein Kind des Zeitgeistes. Der gleiche Vorwurf, der vielen heute gemacht wird, wenn sie wie Paulus das Evangelium konkret in den kulturellen Kontext ihrer Gesellschaft hinein hörbar machen wollen. Paulus Antwort darauf bringt die Auseinandersetzung auf den hermeneutisch entscheidenden Punkt: Er mahnt die Gemeinde, an Christus zu bleiben. (6,1) Das ist die Weisung zur „Mitte der Schrift“ hin, die dann in der Reformation wiederentdeckt wurde und seither zum Grundverständnis lutherischer Bibelhermeneutik gehört. „Was Christum treibet“ ist der von den Reformatoren formulierte Maßstab des Forschens und Bekennens, des Dienstes und der missio dei.

Die biblischen Texte bringen sich in ihrer Wirksamkeit bei ihren Hörerinnen und Hörern selbst zur Geltung. Der Glaube, den die Schrift zu wecken vermag, ist nicht Glaube an „etwas“ in dem Sinne, dass ich eine gegenständliche Aussage für wahr halte. Die Texte der Schrift  –  die Metaphern und Bilder der Sprache des Glaubens – erzählen von einer bestimmten Art und Weise, mich selbst in meinen Lebensvollzügen vor Gott zu verstehen. Nicht ich lege deshalb die Schrift aus, sondern die Schrift legt mich aus. Die damit verbundene existenzielle Erfahrung, dass das Evangeliums Kraft Gottesist, die selig macht alle – Frauen wie Männer  –, die an Christus glauben, war für Luther die  „Mitte der Schrift“. Dies wurde ihm der hermeneutische Schlüssel zum Verständnis wie auch zur theologischen Bewertung der biblischen Zeugnisse und ist es für uns heute auch.

Der Glaube bezieht sich also nicht auf bestimmte Satzwahrheiten, am wenigsten auf einzelne biblische Verse, die dem Glaubenden scheinbar objektiv gegenüberstünden. Das Wort Gottes ist wohl „ein geschliffen Schwert“, wie wir in der Schrift lesen: es scheidet die Geister. Aber eine Waffe ist es nicht. Es ist Power, aber nicht Aufrüstung menschlicher Gewalt und Macht. Das Wort der Schrift teilt mir nicht „etwas“ mit, sondern sagt etwas über mich aus; es leuchtet in die Welt und leuchtet sie aus. So eröffnet die Bibel ihren Hörerinnen und Hörern ein neues Selbst­verständnis, auf dessen Grundlage sie dann auch ihrerseits die Schrift als Auslegerinnen und Ausleger deuten und verstehen können und sollen. Dieser hermeneutische Kreislauf verbietet es, aufgrund einzelner biblischer Aussagen eine vorgeblich objektive Lehre vom Amt der öffentlichen Verkündigung aufzustellen. Wer so argumentiert, stellt sich nicht unter die Bibel, sondern über sie.

II

Der Ostseeraum, aus dem Sie, die Teilnehmenden dieses Kongresses, kommen, ist  –  wie ich eingangs schon erwähnte  –  kulturell in besonderem Maße  durch die Reformation geprägt. Zu dieser Prägung gehört auch, dass seit dem 16. Jahrhundert hier Vielfalt Programm ist. Denn die Wahrheit des Evangeliums wird nicht Top–Down verkündet, sondern tritt ans Licht im gleichberechtigten Diskurs aller Getauften – gleichsam von unten nach oben aufsteigend: Lehre aus der Freiheit eines Christenmenschen, geleitet von der Sehnsucht des Apostels, dass „nicht Jude noch Grieche, nicht Mann nicht Frau“ gelte vor Gott, sondern der Mensch allein, geliebtes Kind Gottes. Die Reformation schöpft ihre Kraft aus der Wiederentdeckung des Wortes Gottes. Dazu gehört auch die bereichernde Erkenntnis, dass dieses Evangelium sich in unterschiedliche Lebensformen auf verschiedene Weise inkulturiert und so das Bekenntnis des einen Glaubens vielfältige Formen annehmen kann – wenn und solange es sich messen lässt an der Mitte der Schrift: Jesus Christus, welcher der Eckstein ist.

Wir leben in einer Zeit, in der Orientierungen unsicher und vielfältig geworden sind; wir leben in einer Zeit, deren Komplexität und Kompliziertheit vielen Menschen Angst macht. Und mit der Komplexität wächst die Sehnsucht nach klaren, nach einfachen Antworten, nach absoluter, nicht erst zu erstreitender Autorität. Es gibt eine Sehnsucht, die viele Christenmenschen zurückführt hinter die errungene Freiheit. 

Nicht nur wir in der Nordkirche sehen mit Sorge, dass es Menschen, Gruppen, Parteien und auch einzelne Kirchen gibt, denen diese Vielfalt Angst macht und die versuchen, zurückzukehren in eine vergangene Welt scheinbarer Klarheit und Eindeutigkeit. Als Folge dieser Rückwärtsbewegung definieren sie sich besonders über Abgrenzung gegenüber Theologien und religiösen Lebensstilen, für die Vielfalt keine Bedrohung, sondern Bereicherung ist. Wer sich so über Abgrenzung definiert, macht sich nicht mehr wirklich Gedanken über Antworten auf die Herausforderungen der Moderne. Das ist aber weder Gewinn persönlicher Freiheit noch Ausdruck einer freiheitlichen Kirche, sondern deren drohendes Ende.

Christliches Verständnis von Person und Gesellschaft ist nach meiner festen Überzeugung bestimmt von sich öffnender, kommunikativer Freiheit, die den Menschen in Verantwortungsbeziehungen gegenüber Gott und den Mitmenschen stehen sieht. Dies gilt auch für die heftigen Herausforderungen, vor der wir als Theologinnen und Theologen stehen, als Verantwortliche für die Lehre, wenn es zum Beispiel um die menschliche Sexualität geht oder um die Ordination von Frauen in das Amt der öffentlichen Verkündigung.

Den anderen und die andere in seinen oder ihren Erkenntnissen von Wahrheit und Geist zu achten und mit Liebe zu begegnen – gerade dann, wenn er oder sie zu anderen Erkenntnissen kommt, als ich selbst oder Menschen früherer Generationen in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen, unter anderem „Zeitgeist“: das fällt oft schwer. Wir neigen immer noch dazu, einander mit „dem“ Wort Gottes sozusagen zu bekämpfen, zum Schweigen zu bringen. Und wissen oft nicht genau genug, ob wir Gottes Geist vertreten oder unsere eigenen Ängste zu bearbeiten versuchen. Darum brauchen wir dringend eine Verständigung über die biblische Hermeneutik, die uns leiten kann in Vielfalt. Jesus selbst macht uns das vor, als er sich von der Samaritanischen Frau am Brunnen befragen und auch belehren lässt.

Als die Synode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Lettland  –  der ELKL  –, in der die Ordination von Frauen bereits 1975 eingeführt worden war, am 3. Juni 2016 durch eine Änderung der Verfassung den Zugang zum Pfarramt auf Männer eingeschränkte, hat uns das geschmerzt. Nicht nur wegen der Endgültigkeit der Entscheidung, sondern wegen der Begründung mit dem einen Wort Gottes. Das Wort Gottes aber will nicht ausgrenzen, sondern hineinnehmen die Vielen und Verschiedenen.

Die Nordkirche, andere lutherische Kirchen, der Lutherische Weltbund und ökumenische Zusammenschlüsse hatten deshalb schon seit längerem das Gespräch mit der ELKL gesucht, um sie theologisch zu überzeugen, diese Entscheidung nicht zu treffen. Den schließlich doch vollzogenen Schritt der ELKL habe ich mit tiefem Bedauern und – ich muss es so deutlich sagen – mit Unverständnis entgegengenommen: Als Landesbischof der Nordkirche, als Leitender Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands und als Vorsitzender des Deutschen Nationalkomitees des Lutherischen Weltbundes, in dem seit den 1980er-Jahren Konsens ist, dass wir miteinander die Ordination auch von Frauen anstreben.

Ich will nicht stehenbleiben bei meiner Enttäuschung. Ich will nicht herausfallen aus dem Gespräch unter Schwestern und Brüdern. Aber ich will mich und meine Kirche auch nicht umgekehrt ausgrenzen lassen. Wir müssen reden, dringend reden, wie wir das biblische Zeugnis verstehen. Ich finde es sachgerecht und als ein wichtiges Zeichen, dass die Frauen in unseren Kirchen das Thema selber anstoßen und vorantreiben. Sie lassen sich nicht ausschließen aus dem Kreis derer, die Gottes Wort auslegen und verkündigen.

III

Das biblische Zeugnis bekennt die Gleichheit aller Menschen als Gottes Ebenbilder und anerkennt die Gaben aller, die in der Taufe durch den einen Geist zu neuen Kreaturen verwandelt worden sind. Die Einheit in Christus überwindet geschlechtsbezogene, ethnische, soziale und wirtschaftliche Unterschiede: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“ So wird diese frohe Botschaft von Paulus im Galaterbrief zum Ausdruck gebracht (3,28). Ein entscheidender Aspekt dieses biblischen Zeugnisses ist die volle Gemeinschaft von Frauen und Männern in Christus. Die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Kirche ist Ausdruck und Zeichen, dass wir uns unter die Herrschaft Gottes stellen.

Gerade für uns Lutheraner kann es in geistlicher Hinsicht einen Unterschied zwischen Mann und Frau nicht geben. Alle Christen sind in gleicher Weise durch die Taufe zu Gliedern der Kirche und zur Priesterschaft berufen: „Was aus der Taufe gekrochen ist, das darf sich rühmen, dass es schon zu Priester, Bischof und Papst geweiht sei“, so schreibt Martin Luther in seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“. Die umfassende Teilhabe am und die volle Gleichstellung im kirchlichen Leben für Männer und Frauen ist Ausdruck einer vertieften Einsicht in unser reformatorisches Bekenntnis.

Kurz nach dieser Entscheidung der ELKL kamen Stephanie Meins, zu dieser Zeit Beauftragte für Geschlechtergerechtigkeit der Nordkirche, Susanne Sengstock, stellvertretende Vorsitzende des Frauenwerks der Nordkirche, und Margit Baumgarten, Vorsitzende des Konventes Evangelischer Theologinnen in der BRD, zu mir, um mit mir darüber zu sprechen, wie die Nordkirche sich zu der Entscheidung verhalten solle und welche Möglichkeiten es gäbe, unsere Schwestern in Lettland zu unterstützen.

Bei diesem Gespräch wurde die Idee zu  einem Kongress in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Mission und Ökumene geboren. Auf die Frage, welches Thema denn eine wirkliche Unterstützung sei, sagten uns lettische Theologinnen: Da die Schriftauslegung bei vielen Brüdern weltweit der Stein des Anstoßes in der Frage der Frauenordination sei, wäre es gut, einen Kongress zu veranstalten, der sich mit den Fragen einer heute verantwortbaren Bibelhermeneutik befasse. Diese Idee hat der Vorbereitungskreis  –  dem ich für seine intensive und erfolgreiche Arbeit herzlich danke  –  konsequent umgesetzt. Es konnten namhafte evangelische Theologinnen gewonnen werden, die in diesen zwei Tagen nicht nur über die Grundlagen der Schriftauslegung informieren, sondern mit ihnen auch hermeneutisch verantwortete Schriftauslegung einüben werden.

IV

In diesem Kongress geht es einerseits um die Grundlagen der biblischen Hermeneutik – wie können wir sie verstehen und wie setzen wir sie praktisch um? –,  andererseits  stellen Sie sich der wichtigen Frage: wie gehen wir mit biblizistischer Schriftauslegung um? Und das alles aufgrund des ganz eigenen Blicks und Verständnisses, welche Frauen haben aufgrund ihrer spezifischen Lebenserfahrung und ihrer Gottesbeziehung. Das setzt neue Gedanken und Einsichten frei, die dringend in unserem theologischen Diskurs benötigt werden.

Ich wünsche Ihnen einen Kongress, der lebendig, bunt und argumentativ stark ist, der hört und Antwort sucht. Von Herzen wünsche ich Ihnen gutes Gelingen. Den Organisatorinnen danke ich für ihr unermüdliches Engagement und den Referentinnen für ihre Bereitschaft, diese zwei theologischen Tage durch ihre Beiträge zu bereichern. Gott begleite Sie alle auf diesem Weg in die Weite der Erkenntnis mit seinem Segen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Datum
14.05.2018
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Gerhard Ulrich
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