12. Januar 2020 | St. Jacobi Greifswald

Wo gehöre ich hin?

12. Januar 2020 von Tilman Jeremias

1. Sonntag nach Epiphanias, Predigt zum Beginn der Allianzgebetswoche vom 12. bis 19. Januar unter dem Motto „Wo gehöre ich hin?“ Die Allianzgebetswoche ist seit 150 Jahren eine von der Evangelischen Allianz initiierte weltweite Woche des Gebets evangelischer Christen.

Liebe Gemeinde,

ich freue mich sehr, heute bei Ihnen sein zu können zur Eröffnung der diesjährigen Allianzgebetswoche. Diejenigen, die mich etwas besser kennen, werden sich nicht wundern, dass ich mich besonders freue, dass wir heute gemeinsam Abendmahl feiern. Denn einerseits würde ich mir wünschen, dass wir in jedem evangelischen Gottesdienst die Gemeinschaft untereinander und mit Christus im Heiligen Mahl feiern. Und zum anderen ist es ja alles andere als eine Selbstverständlichkeit, dass wir als Christinnen und Christen aus den verschiedenen Konfessionen der Allianz unsere gewachsene Einheit erfahrbar werden lassen in der gemeinsamen Mahlfeier.

Das Motto der diesjährigen Allianzgebetswoche ist eine brisante Frage voller Wucht: „Wo gehöre ich hin?“ Diese kurzen Worte laden uns ein darüber nachzudenken, was uns im Leben Halt und Orientierung gibt. Letztlich steckt die andere Frage mit drin: „Zu wem gehöre ich?“, wer gibt mir zu Hause und Geborgenheit? Wo ist der Ort, an dem ich mich angenommen fühle und mich fallen lassen kann? Wer sind die Menschen, die meine Leute sind, egal wie ich mich gerade fühle? Meine Familie, Freundinnen und Freunde, die Gemeinde?

Wo gehöre ich hin? Letztlich ist dies die Frage nach der Heimat. In einer Umwelt, die immer komplexer und undurchschaubarer wird, angesichts einer Zukunft, die immer bedrohlicher auszusehen scheint, ist es so wichtig, einen Ort zu haben und Menschen, denen ich mich zugehörig fühle, als Teil einer schützenden und stützenden Gemeinschaft. Nun ist unsere Gesellschaft so mobil geworden und Beziehungen stehen so schnell infrage, dass auch diese heimatgebenden Rückzugsorte immer fragiler werden. „Wo gehöre ich hin?“ Die Antwort auf diese Lebensfrage kann sich schnell ändern oder ist für nicht wenige vielleicht kaum recht zu beantworten.

Die Verantwortlichen in der Vorbereitung aus Spanien und Portugal haben nun für den Start der Gebetswoche eine buchstäblich radikale Antwortrichtung nahegelegt: „Zu den Wurzeln des Lebens“. Die Wurzel ist lateinisch radix, und daher kommt unser Wort radikal. Wenn wir wissen wollen, wo wir hingehören, kommen wir gar nicht drum herum, uns mit unseren Wurzeln zu beschäftigen. Also mit der Frage: „Wo komme ich her?“ Wo und wie bin ich groß geworden, welche Menschen haben mich geprägt, wo habe ich gelingende Gemeinschaft erlebt, Bestätigung und Ermutigung, wo Brüche, Einsamkeit, Verzweiflung? Ohne meine Herkunft zu bedenken, kann ich nicht wissen, wo ich hingehöre.

Darum ist es gut, mit einem Wurzeltext aus der Bibel in die Gebetswoche zu starten. Empfohlen sind die Segensworte aus Jeremia 17, die wir gerade gehört haben. Aber wie so oft in der Bibel gehört zu diesem Segenswort auch ein Fluchwort. Ich lese jetzt beide im Zusammenhang:

5 So spricht der Herr: Verflucht ist der Mann, der sich auf Menschen verlässt und hält Fleisch für seinen Arm und weicht mit seinem Herzen vom Herrn.

6 Der ist wie ein Strauch in der Wüste und wird nicht sehen das Gute, das kommt, sondern er wird bleiben in der Dürre der Wüste, im unfruchtbaren Lande, wo niemand wohnt.

Gesegnet ist der Mann, der sich auf den Herrn verlässt und dessen Zuversicht der Herr ist.

8 Der ist wie ein Baum, am Wasser gepflanzt, der seine Wurzeln zum Bach hin streckt. Denn obgleich die Hitze kommt, fürchtet er sich doch nicht, sondern seine Blätter bleiben grün; und er sorgt sich nicht, wenn ein dürres Jahr kommt, sondern bringt ohne Aufhören Früchte.

Um es gleich zu sagen: Hier ist vom Mann die Rede wie ebenfalls oft in der Bibel; gemeint ist der Mensch, also beide, Mann und Frau. Nun können wir heutigen Christinnen und Christen ja fragen: Warum denn Fluch? Wir wollen vom Segen hören, ihn empfangen! Bitte kein Zorn Gottes, von dem in den Versen zuvor die Rede war, bitte kein Fluch!

Mit so einem Appell werden wir aber nicht nur dem biblischen Zeugnis nicht gerecht, sondern auch nicht unserer alltäglichen Erfahrung. Jeremia spricht diesen Fluch nicht ins Blaue, sondern in eine konkrete politische Situation. Und dass er das sagt, bringt ihm Feindschaft und Verfolgung ein, sodass er es satt hat, Prophet sein zu müssen.

Israel setzt auf Menschen. Konkret auf den unzuverlässigen Partner Ägypten, der das bedrohte Land vor dem starken Feind aus Babylonien schützen soll. Der Prophet verurteilt diese Allianz, aber er geht noch einen radikalen Schritt weiter: Wer sich allein auf Menschen verlässt, ist wie ein Strauch in der Wüste, abgeschnitten vom Strom des Lebens. Für Jeremia zeichnet sich die Katastrophe ab, die Israel bald ereilen wird: die Eroberung des Landes durch die Babylonier und die Verschleppung der Oberschicht ins Exil. Und für ihn ist klar, warum all das so kommen wird: weil Israel sein Vertrauen eher auf die Militärmacht Ägyptens setzt als auf die Führung Gottes.

Dieses Zeugnis macht den Propheten einsam und unbeliebt. Aber im Nachhinein stellt es sich als Gottes Stimme heraus. Es ist eine radikale Botschaft, weil sie an die Wurzeln geht. Seine Frage ist eigentlich ebenso: Wo gehöre ich hin? Wem schenke ich mein Vertrauen? Worin gründe ich mein Leben?

Jeremia sagt im Fluchwort klar: Traust du allein auf Menschen und nicht auf Gott, wirst du verdorren. Und die Menschen im Israel des Jahres 587 vor Christus müssen genau diese bittere Erfahrung machen. Im Exil erinnern sie sich an die Worte des Propheten. So können sie ihre eigene verzweifelte Lage verstehen als Gottes Gericht über das Volk, das zu sehr auf Menschen gebaut hat. Sie sehnen sich nach neuem Anfang, nach einer neuen Gründung ihres Lebens.

Darum brauchen wir auch das Fluchwort. Unser Leben ist nicht nur Gesegnet-Sein, sondern auch Schmerz, Scheitern, Versagen, Sterben.

Wie gut aber, dass die Androhung des Fluchs nicht das letzte Wort des Propheten ist! Wie erneut oft in der Bibel, ist das Segenswort kräftiger und bunter. Drei, vier Generationen Fluch, tausend Generationen Segen! „Gesegnet ist die Frau, die sich auf Gott verlässt und deren Zuversicht Gott ist.“ Warum? Weil ihre Wurzeln im Saft stehen. Sie ist ein Baum, der vom Bach gespeist wird und so auch Hitze und Dürre übersteht. Sie steht mit beiden Beinen auf dem Boden und dieser Boden ist ihr Vertrauen zu Gott. Sie ist auch von bitteren Erfahrungen nicht so leicht umzupusten, weil sie weiß, wo sie herkommt und wer sie nährt. Das ist der Grund, warum sie zum Segen für andere wird, immer wieder Früchte bringt.

„Zu den Wurzeln des Lebens“ heißt in diesen Bibelversen also mehr, als nach der eigenen Herkunft zu fragen. Es ist die radikale Frage, auf welchem Boden mein Lebensbaum steht, woher ich seelische Nahrung bekomme, was mich stärkt in dürrer Zeit.

Ich verstehe das Fluchwort des Jeremia dabei nicht so, dass wir nun allen Menschen zu misstrauen hätten. Nein, sicher nicht. Es geht dem Propheten vielmehr darum klarzustellen, dass es niemals Menschen sind, die mein umfassendes inneres und äußeres Heilsein garantieren können. Im Gegenteil, diese allzu menschlichen Heilsversprechen führen bald in die Trockenheit der Wüste.

Lebendiges Wasser fließt allein vom dem her, dem ich mein Leben verdanke und der das Universum in Händen hält, Gott selbst. Das Gebet, das die vor uns liegende Woche prägen soll, das Gebet ist zu allererst sich bergen in Gottes Liebe, sich öffnen für seine heilsame Gegenwart, still werden, um seine Stimme zu hören. Bevor wir reden, bevor wir Fürbitte halten für unsere von Gewalt zerrissene Welt, für unsere ausgebeutete Erde, für unsere Stadt, bevor wir Fürbitte halten, sollten wir hören im Schweigen.

Als seine in Jesus Christus geliebten Geschöpfe gehören wir zu Gott. Das steht fest, bevor wir unsere erste Frage stellen. Wir bewegen uns in seinem Segensstrom, wenn wir unser Vertrauen auf ihn setzen. So wird auch diese Gebetswoche ein Segen sein.

Amen.  

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