Wovon der Mensch lebt
04. Oktober 2015
Landeserntedankfest, 18. Sonntag nach Trinitatis, Predigt über Lukas 12, 15-21
Liebe Gemeinde,
wir freuen uns, wenn wir etwas geschafft haben. Wir alle kennen das Gefühl nach getaner Arbeit. Was wir tun können, ist erledigt. Dann stellt sich Zufriedenheit ein. Wir haben das Zutrauen, dass am Ende unsere Mühen auch ihre Früchte tragen. So wurde im Herbst 2014 oder im Frühjahr 2015 gesät, die Äcker bestellt, die Obstbäume gepflegt, die Gemüsepflanzen gesetzt. Und im Vergleich zu vielen anderen Ländern dieser Welt haben wir eine reiche Ernte eingefahren. Aber dass wir ernten können, ist nicht selbstverständlich. Schon Matthias Claudius hat deswegen gedichtet und wir werden es gleich miteinander singen: „Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land, doch Wachstum und Gedeihen steht in des Himmels Hand: der tut mit leisem Wehen sich mild und heimlich auf und träuft, wenn heim wir gehen, Wuchs und Gedeihen drauf. Alle gute Gabe kommt her von Gott dem Herrn, drum dankt ihm, dankt, drum dankt ihm, dankt und hofft auf ihn!“
„Und hoff auf ihn!“ Daran liegt es. Das hat schon Mancher vergessen. Und dann ist alles falsch angefangen. Am Ende wird dann alles nichts. „Und hoff auf ihn!“ In der DDR war es ja verpönt an Gott zu glauben und als Kirchenmitglied zu gelten. Dem kommunistischen Staat entsprach die Einstellung: „Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein“. Allerdings gab es bereits ab den 1970er-Jahren die schlitzohrige Fortführung „Ohne Sonnenschein und Gott geht die LPG bankrott“. Daher ist es auch eine Frage der Erziehung und Gewöhnung, ob man in seinem Leben mit Gott rechnet oder nicht. Wenn heute viele sagen, „Gott gibt es nicht“, dann muss man sich klar machen, dass dies eine Denkfigur von gestern ist. Das sieht man schon daran, dass hier unter uns, in Ostdeutschland, mehr jüngere Leute an Gott glauben als ältere.
„Und hoff auf ihn!“ Ich habe eben die Geschichte vom „reichen Kornbauer“ vorgelesen, die Jesus einmal erzählt hat. Ja, er war reich. Er hatte eine große Ernte eingefahren. Seine Felder hatten gut getragen. Aber der Mann war auch schlau. Direkt nach der Ernte die Erntefrüchte zu verkaufen, brachte nicht so einen großen Ertrag, als wenn man wartete, bis die Preise stiegen und dann viel mehr heraus zu schlagen war. Deswegen ließ der Bauer seine alten Scheunen abbrechen, baute größere neue, lagerte seine Super-Ernte ein. Er freute sich seiner Güter und sagte sich: „Jetzt habe ich ausgesorgt. Das war eine solch fantastische Ernte. Ich bin fein raus. Jetzt will ich von dem leben, was ich habe.“
Gerade diesen letzten Satz, den könnten wir uns sogar heute gut als einen Werbespruch vorstellen, immer wiederholt in jedem Fernsehspott aufs Neue: „Habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut!“ oder „Du darfst so bleiben, wie du bist – du darfst!“
Das grundsätzliche Problem dieses Reichen ist: „Er dreht sich ausschließlich um sich selber.“[1] Dieses „ich will“ zeigt an: Hier ist sich einer selbst der Maßstab. Das „Ich“ ist das Grundwort seines Lebens. Das ist nicht in erster Linie ein moralischer Fehler, sondern Dummheit. Denn jeder Mensch weiß, dass das Leben auch plötzlich zu Ende gehen kann. Doch nicht nur die Möglichkeit des plötzlichen Todes lässt den Landwirt dumm aussehen, noch wichtiger ist, dass er ausblendet, dass er sich eines Tages vor Gott wird verantworten müssen.
Dem Bauern aus dem Gleichnis fehlt die Dimension: „Und hoff auf ihn!“ Von Gott kommt nicht nur die Kraft des Lebens, die das Getreide und alle Früchte wachsen lässt, von ihm kommt alles Leben überhaupt. Er hat es uns gegeben und wird es eines Tages auch wieder von uns zurückfordern.
Vor vielen Jahren habe ich selbst einmal einen solchen reichen Kornbauern kennengelernt. Er verkaufte kein Getreide, sondern Reinigungsmittel und mir sein Auto, denn er konnte sich jetzt ein größeres leisten. Ich habe seinen Wagen gekauft und nebenher wollte er mich von einem neuen System des Marketings überzeugen. Man müsste so und so viele Produkte eines bestimmten Herstellers verkaufen und dann weitere Multiplikatoren gewinnen, die ihrerseits wieder Produkte abnehmen oder neue Kunden gewinnen würden. Er würde jetzt selber seit etwa 10 Jahren in diesem System arbeiten und noch ein Jahr, dann habe er ausgesorgt. „Dann arbeiten andere für mich, dann kann ich nur noch mein Leben genießen.“ Eine Woche nach dem Autokauf hörte ich, dass dieser Mann plötzlich und unerwartet verstorben war. Es war ein Schock für mich. Seine noch junge Frau mit den 2 Kindern stand alleine da. Sein Haus wurde verkauft. Unwillkürlich musste ich an dieses Gleichnis Jesu denken. Es gibt dies: „Du Narr! Heute Nacht werde ich deine Seele von dir fordern.“ Ich fragte mich: „Lebe ich so, dass ich heute Nacht vor Gott treten könnte, wenn er mein Leben von mir fordert?“
Martin Luther hat uns in seiner unnachahmlichen Weise gelehrt: „Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott.“ Wir Menschen stehen immer wieder in der Gefahr, den Geber aller guten Gaben zu vergessen und uns nur an die Gabe zu hängen. Wer den Geber der Gabe im Blick hat, bei dem wird aus dem großen Ich ein kleines. Er will nicht mehr alles alleine für sich besitzen, sondern wird bereit zum Teilen.
Wenn Mitmenschlichkeit unter uns einzieht, wenn sozialer Ausgleich geschieht, dann werden einem Volk Kräfte geschenkt, auch kaum lösbare Aufgaben zu meistern. Sie haben es hier in den letzten Wochen in Semlow erlebt, welche Kräfte hier freigesetzt wurden: In der Gemeinschaft, in wiederbelebter Nachbarschaft. Die Bereitschaft zum Teilen führt ein Volk, führt die ganze Menschheit zusammen und schenkt neue Kräfte. In diesem Jahr, nach 25 Jahren deutscher Einheit, können wir auch auf eine Erfolgsgeschichte zurückblicken. Natürlich ist nicht alles optimal gelaufen. Aber dass ein Volk im Weltmaßstab so gut dasteht und so viele sich wünschen, in Deutschland leben zu dürfen, ist für uns ein Grund zur Dankbarkeit. Wir dürfen dankbar sein für eine gute Ernte und für 25 Jahre deutsche Einheit.
Wir erleben es zurzeit täglich in den Nachrichten, wie diese Welt zusammengerückt ist. Wir nennen es Globalisierung. Es spielt natürlich eine Rolle, welche Lebensbedingungen in den Entwicklungsländern herrschen und welche Löhne dort gezahlt werden für Produkte, die wir dann zu einem Spottpreis erwerben können. Wir täuschen uns, wenn wir meinen, wir könnten für ein T-Shirt 5 € zahlen und wären dann die Verantwortung los. Die Milliarden Menschen der Südhalbkugel werden das nicht länger mit sich machen lassen. Wir werden die Zäune um Europa und Nordamerika nicht so hoch bauen können, dass sie nicht mehr überwunden werden können. Nun kommen noch die Scherben des arabischen Frühlings dazu, die aus dem Zerbrechen jeder staatlichen Ordnung in vielen Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas stammen. Wir können uns der Verantwortung nicht entziehen. Wir können nicht unsere Supergetreideernten nach Syrien, in den Irak und nach Iran verkaufen und dann meinen, was in diesen Ländern vor sich geht, ginge uns nichts an.
Wir brauchen die Bereitschaft zum Teilen auch im weltweiten Maßstab. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Armut weltweit noch viel schlimmer ist, als wir sie hier in Deutschland wahrnehmen. Als ein Bild dafür steht mir die Szene vor Augen, wie ich vor einigen Jahren in Zentraltansania, hunderte von Kilometern abseits jeder asphaltierten und befestigten Straße, eine junge Frau gesehen habe, wie sie mit einem Kind auf dem Rücken ihren Acker bestellt und anschließend vom nahe gelegenen Fluss mit einem alten Kanister Wasser zu jeder Pflanze auf diesem Acker bringt. Wie mühsam musste diese Frau ihre Kinder und ihre Familie ernähren, damit sie überhaupt etwas zum Essen hatte.
Die Not in dieser Welt ist so groß, dass nur eine radikale Bereitschaft zum Teilen wirklich helfen kann. Jedes Jahr sterben durch Hunger und mangelnde Versorgung von Kranken etwa 10 Millionen Menschen, die ansonsten nicht sterben müssten. Bedenken Sie bitte: In den sechs Kriegsjahren von 1939 bis 1945 haben 52 Millionen Menschen den Tod gefunden. Und wir stehen fassungslos vor dem Grauen dieser Kriegstoten. Genauso fassungslos werden die nach uns kommenden Generationen sein, wenn sie sehen, dass das Sterben auch ohne Krieg im 20. und 21. Jahrhundert weitergegangen ist. Europa und Nordamerika werden gegenwärtig zu einer Burg, wohin die Menschen aus dem Süden vor Hunger und nicht ausreichendem Lebensstandard fliehen. Beinahe täglich können wir in den Fernsehnachrichten verfolgen, wie Menschen versuchen, in die Burg Europa einzudringen. Viele, aus Afrika kommend, bezahlen diesen Versuch auf dem Mittelmeer mit dem Leben.
So wie in dem Gleichnis, das Jesus erzählt, bringt Gott sich in Erinnerung. Gott ist schon einmal unter uns getreten. In seinem Sohn Jesus Christus ist er auf dem Plan. Er verkündet uns die gute Botschaft: „Gott ist da! Ihr seid nicht unter euch. Gott teilt euer Leben.“ Darum macht er uns auch fähig, unser Leben zu teilen zwischen denen in West und denen in Ost, Nord und Süd. Solange in unserem Leben auseinander fällt, was zusammengehört, werden wir die Nähe Gottes nicht spüren. Die Verheißung der Nähe Gottes liegt über dem Leben, in dem die Zuwendung zu Gott und die Zuwendung zu dem Bedürftigen aus der gleichen Bewegung kommen.
Es ist ein kleiner zeichenhafter Anfang, wenn wir die Kollekte dieses Gottesdienstes für die Aktion „Brot für die Welt“ sammeln wollen. Aber wir werden noch viel radikaler unsere Probleme gemeinsam mit denen der Menschen aus der so genannten Dritten oder auch Zweiten Welt sehen müssen.
Wer anfängt, Gott für den Segen zu danken, den er in sein Leben gelegt hat, beginnt auch die anderen Menschen um uns herum in den Blick zu nehmen, die unsere Fürsorge brauchen. Dankbarkeit führt zu Gott und zur Nächstenliebe. Die Fülle Gottes lässt auch unsere Mitmenschen nicht leer ausgehen. Wer so Gott und seinen Nächsten in den Blick nimmt, der ist „reich für Gott“.
Amen.