12. Mai 2013 | St. Petri-Dom zu Schleswig

Zwischen-Zeit

12. Mai 2013 von Gerhard Ulrich

Sonntag Exaudi, Predigt zu Johannes 14, 15-19

Liebe Gemeinde!

Er war dann einfach mal weg.

Fröhlich waren wir losgefahren zu Hause, mit all dem Gepäck, das ein junger Mann für ein Jahr im Ausland so brauchen würde. Und viel mehr natürlich. Im Auto zum Flughafen versuchten wir, herauszubekommen, ob er doch wohl noch etwas vergessen hatte: als könnte uns das zum Umkehren zwingen. Es lenkte ab von unserer elterlichen Spannung. Aber wir waren ja stolz, dass er ging: Der Jüngste und so mutig.

Am Flughafen: Einchecken, Gepäck abliefern. Noch ein paar mütterliche und väterliche Tipps.

Und dann verschwindet er plötzlich in der Menge der Fluggäste. Kaum, dass wir uns umarmen konnten, kaum noch ein schnelles „Mach‘s gut, pass auf dich auf…“

Und dann verschwand unser kleiner, großer Sohn durch das Sicherheitsgate.

Weg war er.

Und wir blieben zurück. Und ganz plötzlich merkten wir, wie sehr er uns fehlen würde. Und dass er ja wirklich weg sein würde, weit weg.

Schon am Flughafen wussten wir: Es würde alles anders werden zu Hause. Ohne ihn. Ohne seine Lebendigkeit.

Abschiede sind schwer. Kleine wie dieser, und große, endgültige erst recht. Jede und jeder weiß: Ohne diese Abschiede geht es im Leben nicht. Loslassen ist die Voraussetzung fürs Voran-Gehen. Raus aus schützender Umgebung – das heißt erwachsen werden. Selber verantwortlich sein.

Und wenn gar der Tod uns einen lieben Menschen nimmt, dann blicken wir nicht nur hinterher ins Grab. Dann blicken wir oft auch in ein leeres Loch, in dem alles, was das Leben schön gemacht hatte bis dahin, begraben zu werden droht.

II

Liebe Gemeinde!

Untröstlich sind die Jünger Jesu. „Ich gehe hin zum Vater…“, hatte Jesus gesagt. Und diese Ankündigung schon hatte Angst ausgelöst. Er hatte die Menschen geliebt; hatte Kranke, Verzweifelte aufgerichtet; hatte Vielen in Rat und Tat beigestanden. Hatte Unvorstellbares den Mächtigen entgegengehalten, die Werte umgedreht. Und sie selbst hatte er auf die Beine gebracht.

Und nun? Ohne ihn würde es nicht weitergehen. Alles aus?

Die Jünger sind wie Kinder, hilflos, wenn sie von Vater und Mutter verlassen werden. Das Ende aller Hoffnung: Was soll nun werden aus uns? 

„Liebt ihr mich, so werdet ihr meine Gebote halten. Und ich will den Vater bitten und er wird euch einen andern Tröster geben, dass er bei euch sei in Ewigkeit: den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, denn sie sieht ihn nicht und kennt ihn nicht. Ihr kennt ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch sein. Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen…“

So tröstet der, der geht, die, die zurückbleiben! So redet der, der seine Zukunft bei Gott sieht, zu denen, die vor Schmerz keinen Blick mehr haben für die eigene Zukunft.

Verwaist fühlen sich die Jünger Jesu damals nach seinem Tod; verwaist fühlen sich die Gemeinden nach ihnen in Verfolgung und feindlicher Umwelt: Für sie war jedes Wort und jede Tat des Heiligen Geistes überlebens-wichtig. Und verwaist sind ja auch heute so manche Christen aufgewachsen und leben so vor sich hin: Wissen wir noch, wes Geistes Kinder wir sind? Können wir Gottes Verheißungen trauen?

„Ich will euch nicht als Waisen zurücklassen“, sagt Jesus: ich sorge für euch, ich stehle mich nicht davon: „ich lebe und ihr sollt auch leben!“

III

Heute ist der letzte Sonntag der Osterzeit; der Sonntag zwischen Himmelfahrt und Pfingsten. Zwischen-Zeit, die voll ist von der großartigen Erfahrung der Auferweckung Jesu durch Gott – das leere Grab am Ostermorgen; die Begegnungen der Jünger mit dem Auferstandenen auf dem Weg nach Emmaus und am See in ihrem Alltag; und auf dem Berg, als Jesus aufgehoben wurde zum Himmel: Der Tod ist verschlungen in den Sieg – so wie es der Chor uns eben zugesungen hat.

Der Tod ist nicht Ende, sondern Anfang! Das ist das Zentrum unseres Glaubens: Ich lebe und ihr sollt auch leben! Ihr gehört nicht in das Dunkel, sondern werdet leben im Licht. Denn Gott hat Ja gesagt zu dem, was Jesus gesagt, getan und vorgelebt hat, als er durch die Lande zog. Gottes Ja war und ist das Ja zu Menschenwürde und Teilhabe aller an den Gütern seiner Erde. Niemand soll ausgeschlossen sein – Inklusion für alle! Seht: Daraus lebt ihr, dass ihr, was ihr für wahr erkannt habt, behauptet, weiter erzählt die Geschichten vom gelingenden Leben. Daraus lebt ihr, dass gesagt ist: „Ich bin bei euch alle Tage“. Und darin lebe ich.

Die Tragweite der Osterbotschaft lässt sich nicht treffender zusammenfassen: Ich lebe und ihr sollt auch leben! Leben – das meint in der Bibel immer beides: Das erfüllte, gute, menschenwürdige Leben jetzt, und das über unseren Tod hinausreichende Dasein bei Gott.„Wir sterben nicht weg von Gott – wir sterben zu Gott hin.“ (Ernst Lange).

Das ist die Hoffnung, die stark ist schon jetzt, weil sie frei macht und mutig, mehr und anderes zu erwarten von Gott, als wir sehen können hier und jetzt. „Ich lebe und ihr solt auch leben“: die Welt geht nicht auf in dem, was wir sehen und begreifen. Was wir erfahren in dieser Welt, ist oft zermürbend, entmutigend: Streit, Hass, Tod und Gewalt weltweit. Aber da ist immer auch das, was der Glaube trotzdem weiß: Dass da eine Kraft der Liebe ist, die stärker ist als alles Leid und aller Tod.

Liebe Schwestern und Brüder, manche von Ihnen und Euch werden wie ich dabei gewesen sein an den erfüllten Tagen des Kirchentages in Hamburg: Was für eine Zeit voll mit Gebet, Gesang und Musik; voll von Gottesfreude und Lebensfreude, die die Teilnehmer ergriffen hatte und die zu spüren war in der ganzen Stadt.

Diese Treffen der Christen alle zwei Jahre sind Kraftquellen. Immer wieder heißt es: Die christlichen Kirchen verlieren an Bedeutung. Die Christen werden immer weniger. Wir suchen nach Konzepten, wie wir die Menschen neu begeistern können. Manchmal lähmt der Blick auf die kleinen Zahlen.

Und beim Kirchentag spüren wir plötzlich: Wir sind gar nicht wenige. Wir sind viele! Und unsere Stimme ist gar nicht leise, sondern laut. Und sie wird gehört. Die Botschaft geht hinaus und hinein in die Gesellschaft. Wir haben etwas zu sagen, wir haben etwas zu bieten, wenn es darum geht, eine Gesellschaft mit menschlichem Antlitz zu gestalten. Und wir erleben: Wir sind überhaupt keine Waisenkinder, sind nicht allein gelassen! Der Geist ist höchst lebendig und er ermutigt manchen schlaff gewordenen Glauben.

Das ist wie ein kleines Pfingstfest, wenn alle miteinander singen, beten, der Stimme der Bibel lauschen und spüren, wie die Quelle des Lebens lebendig ist und sprudelt und draußen bei den Menschen – in den U-Bahnen, auf den Plätzen Kraft entfaltet, ansteckt, plötzlich verstanden wird. Kirche ist keine Institution von gestern – trotz ihrer langen Geschichte und trotz der langen Tradition ihrer Geschichten: Sie ist mitten drin in der Zeit, hört die Fragen der Menschen heute, spricht hinein in die Lebenswirklichkeit dieser Welt!

Die Freude der Christenmenschen – und ihr Ernst zugleich sind zu spüren auf dem Kirchentag, wenn es darum geht, die Lebensfragen und Überlebensfragen unserer Zeit in Foren und Diskussionsrunden anzupacken: Tausendfache Hinreise zu Gott, der Quelle unseres Lebens – und tausendfache Rückreise dorthin, wo Gott uns hingestellt hat, seine Boten der Hoffnung zu sein.

„Liebt ihr mich, so werdet ihr meine Gebote halten“, sagt Jesus. Die Liebe, die aus dem Glauben wächst, ist tätige Liebe. An uns, an dem, was wir tun oder lassen, ist zu sehen seine Gegenwart, der tröstende Geist. Wo wir uns einander zuwenden, tut er es; wo wir den Schwachen zur Seite stehen mit unserer Diakonie, mit unserer Gemeinschaft, tut er es; wo wir den Mund auftun gegen Ungerechtigkeit und Gewalt, spricht er; wo wir uns nicht zufrieden geben mit dem, was immer schon so war, ist er es, der ungeduldig ist. Ich lebe, und ihr sollt auch leben!

Dieses „Ihr“ gilt allen, wirklich allen. Jedes Leben ist vor Gott unendlich wertvoll. Mehr wert als wir uns vorstellen können. Und allemal mehr wert, als ein T-Shirt! Der Geist der Wahrheit, der uns tröstet, wird uns kämpfen lassen und aufstehen gegen den Zynismus der Menschenverachtung, der Tausenden von Textilarbeiterinnen und –arbeitern das Leben kostet, damit wir hier billig einkaufen können. Dies muss und kann ein Ende haben!

Ich lebe und ihr sollt auch leben! Wo wir an der Seite derer stehen, die trauern um den einen Soldaten und die vielen, die im Krieg in Afghanistan und sonstwo auf der Welt sterben, steht er selbst an ihrer Seite. Wo wir uns nicht beruhigen lassen, sondern aufstehen für den wahren Frieden, gegen die verrückte Gewalt, die immer neue Gewalt erzeugt; wo wir die, die Verantwortung tragen, stützen und kritisch begleiten, ermutigen, das Rechte zu tun, das den Menschen dient; wo wir die Schwachen wirklich hereinholen in die Mitte der Gesellschaft, die Kranken ihrer Würde entsprechend versorgen, die Armen nicht sich selbst überlassen, sondern zum Teilen rufen die, die mehr haben, als sie brauchen: Da lebt der Herr selbst!

IV

Der Tröster, den Jesus den Seinen verheißt, der Geist des Pfingstwunders, ist kein unbekanntes Wesen. Im Gegenteil: „Ihr kennt ihn“, sagt Jesus. Es ist der Geist aus dem Jesus, der Christus, lebt und wirkt, redet und handelt. Es ist der Geist der Liebe, die von Christus her in uns hineinströmt – und dann wieder aus uns herausströmt durch Worte und Taten, mit denen wir anderen Gutes tun. Wir Geist-erfüllten Gotteskinder sind zum Glück! – nicht ganz dicht! In jeden von uns strömt hinein Gottes Liebe, in jeder von uns wirkt Gottes Liebe, und aus jedem von uns strömt Gottes Liebe heraus – um Gottes und der Menschen willen!

„Liebt ihr mich, so werdet ihr meine Gebote halten“, sagt Jesus. Und so tröstet er die, die zurückbleiben: Ich bin nicht mal weg. Ich bin da. Durch euch.


Liebe Gemeinde, dies ist der letzte Gottesdienst, den ich hier im Dom in meinem Amt als Bischof im Sprengel Schleswig und Holstein mit Ihnen feiere. Auch ein Abschied. Auch einer, der mir schwer fällt. Denn dieses Haus Gottes, dieser von seinem Geist durchflutete und durchbetete Ort mit seinen Menschen ist mir ans Herz gewachsen. Ich bin dankbar für diese Zeit. Und wenn ich meiner Straße ziehe, dann weiß ich: Es geht ja nicht um mich, es geht um den, der uns sendet hierher und dort hin. Dies ist überhaupt kein Abschied, der vergleichbar wäre mit dem, den die Jünger erleben. Und doch ist er einer, der zu den Abschieden meiner Lebensgeschichte gehört. Und der gelingt, weil ich gewiss bin, dass Gottes Geist, dass der Geist der Liebe und der Kraft hier wie dort zu Hause ist: Derselbe, der eine! Jesus: der nicht weg ist, wenn er gegangen ist. Die Jünger, die nicht verlassen sind, obwohl er geht.

Übrigens: Nachdem unser Sohn aus unserem Blickfeld verschwunden war, und nachdem unser Abschiedsschmerz sich gelegt hatte, da war er uns so nahe und so präsent wie kaum jemals zuvor! Er war weg. Aber wirklich weg war er nie.
Amen.

Datum
12.05.2013
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Gerhard Ulrich
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