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26. Juni 2020 von Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt

Was für eine Fülle: Jeden Tag ein gemeinsames Gebet über Twitter. Andachtstexte im Briefkasten, zum Mitnehmen an der Wäscheleine vor der Kirchentür - mit einfühlsamen Worten und schön gestaltet. Bibelworte mit bunter Kreide an die Kirchenmauer geschrieben. Als gute Begleitung durch den Tag. Seelsorge am Telefon und im Chat und, so oft es irgend verantwortbar war, auch am Krankenbett und im Pflegeheim. Einkaufen für die, die nicht vor die Tür gehen können oder wollen. Konfirmationen im eigenen Garten. Locker leichte und nachdenkliche Podcasts zu Themen rund um Gott und die Welt. Spendenaktionen für unsere Partnerkirchen in der Ökumene, die uns in kurzen Videos erzählen, was Corona für sie bedeutet. Gottesdienste zum Einwählen per Telefon, liveline-Gottesdienste jeden Sonntag in einem anderen und spannenden Kontext. Kleine Gespräche und regelmäßige Kontakte auf Distanz - vor dem Balkon. In einer Kirche stehen randvoll gepackte Tüten mit Lebensmitteln, damit es weiterhin genug Essen für in Not geraten Menschen gibt.

Ich könnte noch so viel mehr von dem erzählen, was mich in den letzten Monaten beeindruckt und berührt hat. Davon, wie kreativ und hoffnungsvoll wir als Kirche auch in Corona-Zeiten für andere da waren. Wie sich Menschen selbstverständlich und manchmal auch selbstvergessen weiter engagiert haben. Wie Fragen und Zweifel und Sehnsucht ihren Raum haben durften, und immer wieder Hoffnung aufschimmerte. Wie auch weiterhin die Rede war von Gottes unbeirrbarer Liebe, von Barmherzigkeit in der Nachfolge Jesu, von bewegender Geisteskraft. Es war regelrecht zu sehen, wie die Worte lebendig wurden. Lebendige Hoffnung in einer Welt, die sich für Wochen und Monate um Gefährdung des Lebens, um Sterben und Tod drehte. 

Wahrgenommen habe ich in dieser Zeit viel Angst, viele Sorgen und Befürchtungen, große Bedrückung und Not - und all das ist ja nicht einfach verschwunden. Aber ich habe auch viel Trost gespürt, viel Lebensmut und Zuversicht gesehen, die sich nicht aus dem Geist der Furcht, sondern der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit speisten. All das geschah mutig, trotzig, heiter, gelassen widerstehend gegen den Einbruch von Unverfügbarem, Unverständlichem, denn: Da ist ja noch Gott, da ist ja noch Christus, da ist ja noch eine größere Hoffnung, das ist ja noch eine größere Geborgenheit! Und: da sind ja noch wir!

An all das denke ich, während ich auf die aktuellen statistischen Zahlen der evangelischen Kirche und unserer Nordkirche sehe, insbesondere auf die sehr deutlich gestiegenen Austrittszahlen vom letzten Jahr. Es sind ernüchternde Zahlen. Sie treffen uns tief. Und sie werden viele enttäuschen, die sich in unserer Kirche ehren- und hauptamtlich engagieren und dabei auch nach neuen Wegen suchen, für Menschen da zu sein. Ich bin so dankbar für ihren Glauben, ihre Zuversicht, ihre nicht nachlassende fröhliche Kreativität! Und ich danke ihnen  ausdrücklich auch für die finanziellen Mittel, die sie uns verlässlich und kontinuierlich zur Verfügung stellen.

Die statistischen Zahlen sind ernüchternd. Aber in all ihrer Nüchternheit sollten wir auch verstehen, was sie uns, so schmerzlich das sein mag, so unverständlich sie uns erscheinen mögen, auch aufzeigen: Was viele Menschen von einer religiösen Begleitung ihres Lebens in einer christlichen Gemeinschaft erwarten, passt offenbar nur begrenzt zu dem, was sie bei uns finden und wahrnehmen. Das trifft insbesondere auf die 20- bis 35-Jährigen zu, aber zunehmend auch auf die Gruppe der über 60-Jährigen. 

Ich schreibe das mit klopfendem Herzen, denn kaum ist es aufgeschrieben, regen sich gleich viele „Aber“ in mir: „Aber“ da sind doch so viele engagierte und tolle Angebote - von Kinderkirche bis Krisenbegleitung. „Aber“ da ist doch so vieles, das zeigt, wie Glaubende in Wort und Tat Liebe und Barmherzigkeit in die Welt tragen - von Obdachlosenhilfe bis Seenotrettung. „Aber“ das ist doch alles nur Teil eines gesellschaftlichen Trends, in dem es alle Institutionen schwer haben, die Gewerkschaften wie die Vereine. Aber, aber, aber.....

Und doch werde ich das Gefühl nicht los, die vielen „Aber“ könnten mir den Blick verstellen, mich unempfindlich machen gegen das, was nicht zu übersehen und zu leugnen ist. Dazu gehört, dass Menschen neben seelsorgerischer Zugewandtheit und liebevoll gestalteten Gottesdiensten bei Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten und Beerdigungen, neben begeisternden und einladenden Festen und Freude darüber, dass sie da und willkommen sind, auch die Erfahrung machen, dass Gemeinden wie abgeschlossene Gruppen sind, die lieber unter sich bleiben, als sich zu öffnen. Dass kirchliche Strukturen kompliziert, schwerfällig und unverständlich erscheinen und nicht immer dazu einladen, mitzugestalten und sich zu beteiligen. Dass sie spüren oder direkt hören, mit ihrem Wunsch nach Trauung oder Taufe in einer Kirche ja „nur“ ein schönes Event zu wollen, ohne „richtig“ zu glauben oder „wirklich“ zur Gemeinde zu gehören.

Ich sehe beides: Viele lebendige Aufbrüche und neue Wege, große Liebe und Verbundenheit im Glauben, den Wunsch nach einer vertrauten und bergenden Gemeinschaft, das zuweilen über die eigenen Grenzen hinausgehende Engagement für andere, für Frieden und Gerechtigkeit, die Bewahrung der Schöpfung. Und ich sehe auch die Skepsis und Sorge, die dazu führen, jetzt halten zu wollen, was zu halten ist, die Bewahrung und Sicherung vor Aufbruch und Veränderung stellen. Aber wie so oft bei großen Ambivalenzen wird beides seinen Raum haben müssen: der zuversichtliche Aufbruch ebenso wie die bewahrende Tradition. Und ja, beides gehört zusammen, weder das eine noch das andere darf absolut gesetzt werden.

Die aktuellen und auch die schon länger bekannten Prognosen zur Entwicklung der Kirchenmitgliedschaft fordern mich aber auch heraus. Ich will mich ihnen stellen – denn ist verantwortlich gegenüber unserem Auftrag und unserer Aufgabe als Kirche. Und auch gegenüber der Botschaft des Evangeliums und der Menschen, denen sie gilt - denn: „... brannte nicht unser Herz?“

Ich denke deshalb: Wir werden die gegenwärtigen religiösen Sehnsüchte der Menschen, ihre Suche nach Gemeinschaft und ihre konkreten ethischen Fragen besser verstehen müssen. Wir sollten genauer auf die damit verbundenen Themen eingehen, z.B. auch mit Hilfe einer bisherige Möglichkeiten ergänzenden und unterstützenden sog. „Kasualagentur“. Denn nach wie vor sind Menschen auf der Suche nach einer religiösen Begleitung ihres Alltags. Nach wie vor suchen sie nach einer persönlich gestalteten spirituellen Praxis. Nach wie vor wollen sie Verantwortung für andere und für unsere Welt übernehmen und sich dabei aktiv einbringen und sie fragen nach dem, was dabei Orientierung und Halt gibt. Nach wie vor suchen Menschen verschiedener Lebensformen nach Gemeinschaft und Segen, nach Geborgenheit und Verbundenheit über so viel Trennendes in unserer Gesellschaft hinweg. Und auch ich höre nicht auf, mich danach zu sehnen, wie es ist, wenn das Brot, das wir teilen, als Rose blüht, wenn das Wort, das wir sprechen, als Lied erklingt und wir sehen, dass Gott schon längst angefangen hat, mitten unter uns sein Haus zu bauen. 

In der Corona-Pandemie war zu erleben, dass viele Gemeinden, Kirchenkreise, Hauptbereiche, wie Verwaltung, Kirchenämter, Initiativgruppen und Einzelpersonen, dass wir alle als Nordkirche schnell und kreativ auf die Suche nach Orientierung und religiöser Deutung reagiert haben: Insbesondere die digitalen Andachts- und Gottesdienstformate wurden nahezu viermal mehr wahrgenommen als zuvor die traditionellen Sonntagsgottesdienste. Nach einer ersten Studie lag das vor allem an den kurzen, ansprechend gestalteten Formen, die Beteiligung z.B. durch selbst formulierte Fürbitten oder Chatfunktionen ermöglicht haben. Was können wir aus den dabei gemachten Erfahrungen lernen für die Gestaltung und Feier unserer Gottesdienste?

Insbesondere die digitalen Angebote haben uns in Kontakt mit Menschen gebracht, die sonst nicht mit uns unterwegs durch ihr Leben sind - quer durch alle Generationen. Was bedeutet das für unsere Arbeitsformen, für gute digitale Angebote, für die Präsenz von Kirche im weltweiten Netz und welche Auswirkungen hat das auf den Berufsalltag der Mitarbeitenden? 

Ebenfalls groß war die Resonanz auf seelsorgerische Angebote und eine an individuellen und existentiellen Fragen orientierte Begleitung. Wie verstehen wir das im Blick auf persönliche Ansprechbarkeit, größer werdende Pfarrbereiche besonders in ländlichen Regionen? Welche neuen Formen des Miteinanders im Verkündigungsdienst sollten wir suchen und entwickeln, um weiter verlässlich für Menschen präsent zu sein? 

Deutlich wurde in den letzten Wochen auch: wir sind gefragt und wichtig als eine Kirche, die an der Seite derer steht, die existentiell bedroht sind: Kranke und Sterbende, Kinder und Familien, Senioren, Arme, Obdachlose, Flüchtlinge und Migranten - und auch unsere Partnerkirchen in der ganzen Welt. Für mich wird dadurch noch einmal deutlicher, wie sehr diakonisches Engagement und kirchliches Leben zusammengehören, einander wechselseitig bedingen. Was müssen wir tun, um dieses Miteinander zu stärken? 

Wenn ich nach diesem zweifelsohne unvollkommenen Blick auf einzelne Arbeitsfelder ein paar Schritte zurücktrete, und auf unsere ganze Kirche sehe, dann denke ich: In unserem Zukunftsprozess gehört vieles auf den Prüfstand. In unserer pluralen, multireligiösen und von Digitalität geprägten Gesellschaft brauchen wir als evangelische Kirche mehr dialogische Kommunikation und aktive Beteiligung von Menschen aus unterschiedlichen Lebenszusammenhängen. Damit verbinden sich neue Möglichkeiten und Perspektiven für ein Kernthema evangelischen Glaubens und Lebens: das allgemeine Priestertum. Unser bereits begonnener Zukunftsprozess wird dabei wichtige Erkenntnisse beisteuern, die wir in die Praxis umsetzen werden. Ich bin sicher: Das wird uns als Kirche verändern und sich mit einem neuen evangelischen Selbstbewusstsein verbinden. Einem Selbstbewusstsein, das sich aus einer evangelischen Grundhaltung gegenüber Glauben und Leben speist. 

Nicht zuletzt ist es wichtig, dass wir trotz der Herausforderungen, vor die wir durch den prognostizierten Kirchensteuerrückgang gestellt werden, über den Tellerrand hinaus sehen und verlässlich für unsere weltweiten ökumenischen Partner da sind. Mich beschäftigt die Sorge, auch die Sorge unserer Partnerkirchen, dass wir ausgerechnet jetzt, wo so viele von ihnen in einem weitaus existentielleren Maße als wir von den Folgen der Corona-Pandemie betroffen sind, unser Engagement einschränken könnten. Denn gerade jetzt ist unsere konkrete Hilfe, aber auch unsere Verbundenheit im Glauben, unser Gebet füreinander ein wichtiges Hoffnungszeichen - für unsere ökumenischen Partner wie für uns selbst. 

Zukünftige finanziell bedingte Veränderungen dürfen aus meiner Sicht auch nicht auf Kosten des Nachwuchses in kirchlichen Berufen gehen - hier müssen wir den anstehenden Generationswechsel gut gestalten. Ich bin froh, dass ich dazu einen weitreichenden Konsens in unserer Kirche wahrnehme. 

Wir brauchen aber auch weitere Formen von Mitgliedschaft und Zugehörigkeit sowie neue Finanzierungsmodelle für uns als evangelische Kirche. 

Für uns als zukünftige Kirche wird zentral sein: zuhören, sich aus Gewohntem herausbewegen, Hoffnung teilen, da sein für Menschen in Glück und in Not, öffentliche Stimme evangelischer Weltverantwortung sein - all das orientiert an Gottes unbeirrbarer Liebe und der Barmherzigkeit Christi, geleitet vom Geist Gottes, der neue Möglichkeiten schafft. Damit wir allezeit Auskunft geben von der Hoffnung, die in uns ist (vgl. 1. Petrus 3) - lebendig, kräftig und schärfer. 

Datum
26.06.2020
Von
Landesbischöfin Kristina Kühnbaum-Schmidt
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