Porträt

Der Junge, der nicht leben sollte, wird erwachsen

Frisbee gehöt zu Tims großen Hobbies
Frisbee gehöt zu Tims großen Hobbies© Detlef Heese / epd

02. Juli 2015 von Timo Teggatz

Sein Leben sollte enden, bevor es begonnen hatte: Tims Mutter wollte abtreiben, weil der Junge das Down-Syndrom hatte. Doch Tim überlebte. Er kam in eine Pflegefamilie. Jetzt wird er 18 Jahre alt. Hausbesuch bei einer glücklichen Familie.

Mit gekreuzten Beinen sitzt Tim auf dem Fußboden und lässt den Frisbee kreiseln. Dann beugt er sich weit vor. Beinahe berührt seine Nasenspitze die langsam austrudelnde Scheibe. Der junge Mann mit den blonden Bartstoppeln ist 17 Jahre alt und hat das Down-Syndrom. Und er wird nicht müde, dieses Spiel zu spielen: Immer wieder beginnt er von vorn.

Tim ist das "Oldenburger Baby", das am 6. Juli 1997 in einer Oldenburger Klinik zur Welt kam und eigentlich gar nicht leben sollte. Seine Mutter hatte kurz zuvor erfahren, dass ihr Kind behindert sein würde. "Sie entschied sich, es abtreiben zu lassen", erzählt Tims Pflegemutter Simone Guido (50). Doch Tim hat seine Spätabtreibung in der 25. Schwangerschaftswoche überlebt - und danach noch viele Operationen, Krankheiten und Krisen. An diesem Montag wird Tim erwachsen, 18 Jahre alt.

Neun Stunden kämpfte er um sein Leben – allein

Außer seiner Frisbeescheibe liebt Tim noch Musik, rasende Fahrradfahrten auf dem Tandem und natürlich seine Familie. Groß geworden ist Tim bei den Guidos in Quakenbrück bei Osnabrück. Melissa (15) und Naomi (11) wollen ihren Bruder zum Tanzen animieren. Auch die Mädchen haben das Down-Syndrom, auch sie sind Pflegekinder. Ein deutscher Popsong schallt aus dem Lautsprecher. "Ich mag Megahits", erzählt Melissa und nimmt Tim bei der Hand. Der grinst und klatscht laut im Takt. Dann hockt er sich vor den Lautsprecher. Naomi kommt, legt ihren Kopf an seine Schulter und lächelt verträumt.

Bei Tims Geburt dachten die Ärzte zuerst, der Junge würde nur Minuten nach dem Schwangerschaftsabbruch sterben. Bei einer Spätabtreibung sterben die Kinder durch Medikamentengaben während der Geburt oder kurz danach. Eigentlich. Neun Stunden hat Tim, in ein Handtuch gewickelt, ganz allein um sein Leben gekämpft. Erst dann kümmerten sich Mediziner und Schwestern um ihn. "Aber sie glaubten nicht, dass er das erste Jahr überstehen würde", sagt seine Pflegemutter. Ein halbes Jahr lag er auf der Intensivstation. Auch danach hing sein Leben oft am seidenen Faden. 

 

Als Tim geboren wurde, hatten Simone und Bernhard Guido sich gerade entschlossen, ein Pflegekind aufzunehmen. Sie hatten zwei Söhne, Pablo und Marco, heute 20 und 23. "Das Pflegekind sollte ein Mädchen sein und nicht behindert", erinnert sich Simone Guido. Doch sie nahmen Tim. Seine leiblichen Eltern sahen sich nicht in der Lage, ihn zu sich zu holen. Die Mutter ist wenige Jahre später gestorben, der Vater hat den Kontakt zur Pflegefamilie irgendwann abgebrochen. Bereut haben die Guidos ihre Entscheidung nie: "Wir führen ein glückliches Leben, ich kann mir kein besseres vorstellen", sagt Simone Guido mit fester Stimme.

Tims Pflegemutter: "Er ist ein Kämpfer"

Durch die Unterversorgung nach der Geburt hat Tim weitere Behinderungen. Seine Füße haben eine starke Fehlstellung. Er ist Autist, kann bis heute kaum sprechen. Er kann nicht schlucken und wird über eine Magensonde ernährt. Viele Operationen waren nötig. Aber Tim hat es immer geschafft. "Er ist eben ein Kämpfer", sagt seine Pflegemutter. Tim schaut kurz zu ihr hoch. Dann wendet er sich Familienhund Theo zu. Der leckt ihm mit seiner großen Zunge quer übers Gesicht. Tim kneift die Augen zusammen, schüttelt sich und lacht.

Tims Geschichte ist damals durch die Medien gegangen und hat eine Diskussion über Spätabtreibung entfacht. Diese ist möglich, wenn Ärzte eine Behinderung des ungeborenen Kindes feststellen und das Leben der Mutter gefährdet ist, sie zum Beispiel mit Suizid droht. Anders als damals muss heute allerdings eine dreitägige Bedenkzeit zwischen der Diagnose und dem Abbruch der Schwangerschaft liegen. "Schuld an Tims Schicksal hat niemand", sagte Simone Guido. Auch die Ärzte seien in einer Ausnahmesituation gewesen.

Heute Auftritt im ZDF

"Aber der Gesellschaft muss man einen Vorwurf machen", ergänzt die Pflegemutter: "Sie stand nicht hinter Tims Mutter, hat ihr nicht das Gefühl vermittelt, dass man mit einem behinderten Kind leben kann." Das sei heute kaum anders. 2012 wurde ein Bluttest zur Erkennung des Down-Syndroms eingeführt. "Seitdem werden neun von zehn Kindern mit dieser Behinderung schon in der Frühphase der Schwangerschaft abgetrieben."

Simone und Bernhard Guido streiten auch öffentlich für ein Leben mit Behinderungen. Heute Abend sind sie zu Gast in der ZDF-Talkshow "Markus Lanz". Zum 18. Geburtstag haben sie für Tim ein Buch geschrieben – mit dem Titel "Tim lebt!". Der Erlös ist für den Aufbau einer betreuten Wohngruppe gedacht, in der Tim und seine Schwestern später einmal leben sollen. Im Vorwort schreiben sie: "Mach so weiter, bereichere unser Leben durch deine Fröhlichkeit und deinen Lebenswillen. Du bist ein ganz besonderer Mensch."

Buchtipp

Simone und Bernhard Guido: Tim lebt!, Adeo-Verlag, ISBN 978-86334-038-4

Veranstaltungen
Orte
  • Orte
  • Flensburg
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde Flensburg-St. Johannis
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Gertrud zu Flensburg
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Marien zu Flensburg
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Michael in Flensburg
    • Ev.-Luth. St. Nikolai-Kirchengemeinde Flensburg
    • Ev.-Luth. St. Petrigemeinde in Flensburg
  • Hamburg
    • Hauptkirche St. Jacobi
    • Hauptkirche St. Katharinen
    • Hauptkirche St. Michaelis
    • Hauptkirche St. Nikolai
    • Hauptkirche St. Petri
  • Greifswald
    • Ev. Bugenhagengemeinde Greifswald Wieck-Eldena
    • Ev. Christus-Kirchengemeinde Greifswald
    • Ev. Johannes-Kirchengemeinde Greifswald
    • Ev. Kirchengemeinde St. Jacobi Greifswald
    • Ev. Kirchengemeinde St. Marien Greifswald
    • Ev. Kirchengemeinde St. Nikolai Greifswald
  • Kiel
  • Lübeck
    • Dom zu Lübeck
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Aegidien zu Lübeck
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Jakobi Lübeck
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Marien in Lübeck
    • St. Petri zu Lübeck
  • Rostock
    • Ev.-Luth. Innenstadtgemeinde Rostock
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde Rostock Heiligen Geist
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde Rostock-Evershagen
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde Rostock-Lütten Klein
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Johannis Rostock
    • Ev.-Luth. Luther-St.-Andreas-Gemeinde Rostock
    • Kirche Warnemünde
  • Schleswig
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde Schleswig
  • Schwerin
    • Ev.-Luth. Domgemeinde Schwerin
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde Berno Schwerin
    • Ev.-Luth. Kirchengemeinde St. Nikolai Schwerin
    • Ev.-Luth. Petrusgemeinde Schwerin
    • Ev.-Luth. Schloßkirchengemeinde Schwerin
    • Ev.-Luth. Versöhnungskirchengemeinde Schwerin-Lankow

Personen und Institutionen finden

EKD Info-Service

0800 5040 602

Montag bis Freitag von 9-18 Uhr kostenlos erreichbar - außer an bundesweiten Feiertagen

Sexualisierte Gewalt

0800 0220099

Unabhängige Ansprechstelle für Betroffene von sexualisierter Gewalt in der Nordkirche.
Montags 9-11 Uhr und mittwochs 15-17 Uhr. Mehr unter kirche-gegen-sexualisierte-gewalt.de

Telefonseelsorge

0800 1110 111

0800 1110 222

Kostenfrei, bundesweit, täglich, rund um die Uhr. Online telefonseelsorge.de

Zum Anfang der Seite