30. Oktober 2016 | Hauptkirche St. Jakobi Hamburg

„Die Reformation – eine Revolution? Ökumenische Perspektiven 500 Jahre später“

30. Oktober 2016 von Gerhard Ulrich

Kommentar des Landesbischofs zum Referat von Prof. Hartmut Lehmann aus Kiel bei der Podiumsdiskussion mit Landesbischof Gerhard Ulrich und Weihbischof Dr. Hans-Jochen Jaschke (Erzbistum Hamburg) zum Thema „Die Reformation – eine Revolution? Ökumenische Perspektiven 500 Jahre später“ (Veranstalter: Evangelische Akademie der Nordkirche)

Nein, auf die im Titel gestellte Frage gibt es in der Tat keine einfache Antwort. Das hängt tatsächlich mit den Zeitkorridoren zusammen, in die die Reformation eingebettet ist.

Das hängt wesentlich zusammen mit der Person Martin Luthers, der immer im inneren Bild aufscheint, wenn das Wort „Reformation“ fällt; das wiederum hängt auch damit zusammen, dass Luther so eine wunderbare Wortmarke ist, wenn es darum geht, das Gedenken zu inszenieren. Da kann man reden, wie man will, auf die Komplexität der historischen und Politischen wie Geistlichen Bewegung energisch hinweisen: mit der Figur dieses einen Reformators geschieht die für ein Event nötige Reduktion der Komplexität. Und das schon ist alles andere als revolutionär.

Das hängt auch insofern mit der Person Martin Luthers zusammen, als er im Rückblick nicht das ist, was ich und mit mir viele mit einem „Revolutionär“ verbinden: ein Aufständischer nach außen, ein entschiedener Streiter für die Elenden.

Martin Luther war mutig – wenn auch zuerst aus Verzweiflung. Aber er war kein Held. Er war ein Kind seiner Zeit. Und er war eine Person mit Brüchen. Er war sicher auch erschrocken über manche Radikalität seiner Mitstreiter und „Follower“ (Andreas Karlstadt z.B. ist er kräftig in die Parade gefahren. Und den sogenannten „linken Flügel“ der Reformation hat er bekämpft und hat so dafür gesorgt, dass manch revolutionäre Kraft im Keim und in Gewalt erstickte.

Er bestach nicht gerade durch Distanz zur Obrigkeit.

Wichtig ist vor allem: er war keineswegs der erste, der Aufstand: 100 Jahre vor ihm war Johann Hus verbrannt worden, als Ketzer. Das Konzil zu Konstanz darf nicht vergessen oder ausgeblendet werden. Da kochte Widerstand schon lange – und nicht nur auf „kleiner Flamme“!

Und dennoch ist Luthers Konfrontation der Welt mit dem Wort Gottes, seine Wiederentdeckung der Kraft des Evangeliums und damit auch die Erinnerung an die Freiheit von weltlicher Macht und von klerikaler Bevormundung ein Beitrag (nicht der Beginn) zur Veränderung des gesellschaftlichen Gesamtgefüges.

I

Die Moderne ist entstanden, weil der Mensch sich gefragt hat: "Wer bin ich eigentlich? Was ist meine Rolle in der Welt? Was kann ich alles leisten? Und: Und an was soll ich glauben? Was hilft gegen die Angst, gegen die Teufel…?"

So zu fragen ist revolutionär. So konsequent vom Ich her. Und dann diese Fragen zu stellen: nach der eigenen Identität. Sie selber beantworten zu wollen. Nicht auf vorgegebene Autoritäten zu vertrauen.

Nun kann man sagen. Das waren nicht die Fragen Martin Luthers. Seine Frage war:  wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Sein Gewissen war an Gottes Wort gebunden, wie Prof. Lehmann eben völlig richtig sagte. Kein autonomes Fragen, ein heteronomes: die Autorität Gott steht fest. Schon richtig. Doch ist das eine „Knechtschaft Gott gegenüber“, wie eben in den Raum gestellt wurde?  Kann es Freiheit, wirkliche Freiheit geben ohne Bindung? Verkehrt sie sich nicht ins Gegenteil, wenn sie sich nicht gebunden weiß an Verabredungen, Grund-Sätze? Ungebundene Freiheit ist Willkür auf Kosten der Unfreiheit anderer!

Da ist dieses „moderne“ ICH im Fragen Luthers. Das uns auch pointiert im Gr. Katechismus entgegentritt, wenn M.L. schreibt: ich glaube, dass Gott mich geschaffen hat samt aller Kreatur. Und zugleich eine Balance findet zwischen Ich-Bewusstsein und dem Ganzen der Schöpfung, dessen Teil ich bin. Mit den 95 Thesen, noch mehr mit seinen reformatorischen Hauptschriften aus dem Jahr 1520, hat Martin Luther eine Erneuerung des Glaubens ausgelöst, die allen Glauben, alle Verantwortung in der Welt in einem personalen Gottesverhältnis gründet, einer Ich – Du – Struktur, in der der je Einzelne unvertretbar - als Ich - glauben und aus Glauben handeln und sich so vor Gott verantworten muss und darf und kann. Da vertritt ihn kein Priester, kein Bischof, kein Papst, kein Präsident des Luth. Weltbundes. Und vielleicht ist das weder autonom noch heteronom. Vielleicht ist das theonom. Glauben und Handeln aus einer persönlich verantworteten Gottesbeziehung.

II

So gesehen war die Reformation eine Revolution. Und an der waren neben Luther viele andere maßgeblich beteiligt. Keine „frühbürgerliche“, wie man das in der DDR meinte und keine nationale, wie das früher im Deutschen Reich – und auch noch später - kolportiert wurde. Doch es war eine Revolution und M.L. ein Revolutionär. Aber eine ganz andere. Eine, die im Herzen von M.L. vor sich ging, die ihn revolutionierte und die jeden, der dieses Erlebnis und diese Erkenntnis M.L.s für sich existenziell durchlebt, ebenso revolutioniert – im Sinne von umkehrt und neu beginnen lässt. Darum geht es mir. Das ist auch für mich persönlich entscheidend.

Es ist diese M.L. ganz ergreifende Einsicht, die wir gerne mit der Chiffre „Turmerlebnis“ benennen. M.L. ist zur Zeit dieses Turmerlebnisses – wo es auch immer und wie, als Prozess vielleicht, stattgefunden hat, Theologieprofessor in Wittenberg, legt die Psalmen, die Paulusbriefe aus, und kämpft theologisch-existenziell mit der Frage, wie Gerechtigkeit Gottes zu verstehen sei. Er kann sie nur verstehen entsprechend zur Gerechtigkeit der Justiz, die ohne Ansehen der Person fragt, ob einer den vorgegebenen Normen entsprechend gehandelt hat. Und wenn nicht: dann bestraft sie. Wer, fragt sich M.L., kann schon die Normen, die Gebote Gottes befolgen: den Nächsten wie sich selbst zu lieben, Gott stets und aus ganzem Herzen zugeneigt sein? Ich kann es nicht. Deshalb wird Gott mich bestrafen. M.L. hat noch 30 Jahre nach diesen Anfechtungen seine Angst vor, seine Wut auf diesen tyrannischen Gott drastisch beschrieben[1]. Bis ihm klar wird: Gottes Gerechtigkeit ist keine strafende. Es ist eine schenkende Gerechtigkeit. Und sie sieht die Person gerade an. Gott schenkt sich uns Menschen. Sagt ja zu uns. Erweckt uns aus Glauben zu neuem Leben. Das war ist ihn, schreibt er, „die Pforte ins Paradies gewesen“. 

Diese religiöse Erfahrung Luthers: Das ist eine Revolution, eine revolutio, ein Umdrehen der Werte und Normen, die über Heil oder Unheil des Menschen entscheiden. Eine innere, eine geistliche Revolution. Die schon eine Erkenntnis war, etwas, das er aktiv vollzog. Mehr aber noch ein Erlebnis, eine Erfahren, ein Widerfahren, das ihn packte und umdrehte. Die jeden von uns, der dies durchlebt, umdreht.

III

Und diese innere Revolution führt zu einer äußeren Revolution: Weil ich nicht ständig Leistungen für mein Seelenheil erbringen muss, bin ich frei, ja befreit, die Welt, die Gesellschaft als Feld meines Handelns anzunehmen. Das ist die zweite revolutionäre Einsicht Luthers. Sicher war Luthers politisches und kirchenpolitisches Handeln eher konservativ, im Sinne von conservare. Stabile Strukturen erhalten oder neu schaffen. Doch diese Wendung aktiv zur Welt. Das ist theologisch revolutionär. Hat es natürlich vorher auch schon gegeben. Aber nicht in einem solchen kairos. Dass jemand den Zeitpunkt erfasste, es wirkmächtig, Echo erheischend in die Welt zu rufen.

IV

Alle sollen an der Fülle des Lebens teilhaben. Das ist Gottes Verheißung für uns. Daran mitzuarbeiten. Und das Leben und die Schöpfung zu feiern. Dazu hat uns Gott befreit. Dazu hat er uns das Mandat geben. Und so werden Christen in einem dritten Schritt praktisch revolutionär. Nehmen nicht hin, dass Menschen, hungern, versklavt, verfolgt werden. Ausgegrenzt, benachteiligt: aufgrund von Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe, Bildung, Überzeugung. Leisten Beiträge für eine gerechtere Gesellschaft. Hier in Hamburg geschieht das, an der Peripherie Europas, die wir gerade als Bollwerk gegen die anbrandende globale Elendsmigration missbrauchen. Und gerade auch dort, wo diese getriebenen Menschen herkommen: auf der Südhalbkugel.

Wir sind frei – und darum nicht frei, uns nicht verantwortlich zu fühlen für die Welt.

Dieser Impuls der Reformation, der lebt heute in allen Konfessionen als ihr je Eigenes und gleichzeitig uns alle Verbindendes. In diesem Sinne gibt es in allen Konfessionen echt Reformierte. Diese Welt braucht es. Sie hungert nach Frieden und Gewissheit. Sie sehnt sich danach, dass wir Zäune abreißen und ablegen alle Furcht vor der Vielfalt und dem Fremden. Wichtig ist dies für den Frieden der Welt! Für die Einheit der Kirche ebenso!

So zu handeln - das geschieht heute in aller Regel reformerisch, evolutionär. Aber der Ansatz: der ist revolutionär. Will umwerten. Will erhöhen die Erniedrigten. Wie es uns das Magnificat zuruft:

„Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen. Er gedenkt der Barmherzigkeit…“

Diese Revolution aus dem Zentrum des Evangeliums. Aus dem, was „Christum treibet“: Sie stellt unseren Glauben und unser Denken nicht – wie Marx und Engels sagten (von ihnen hörten wir ja schon): vom Kopf auf die Füße, sondern umgekehrt: von den Füßen auf den Kopf. Weil dort: im Kopf, in der Seele, im Herzen, im Glauben, jede Revolution, jede Veränderung anfängt. Die uns dann Kraft und Orientierung gibt, die Welt ein wenig anders werden zu lassen.

Insofern ist Reformation revolutionär, mehr als der Reformator oder dieser Reformator es ist: insofern sie nämlich an die Quelle der Freiheit zurückführt und so die revolutionäre Kraft des Evangeliums selbst neu ins Spiel bringt – zunächst in einer Gesellschaft, die verängstigt ist, unter Zwängen lebt und sich nach Erlösung und Überwindung sehnt. Wie heute wieder – oder immer noch!

 


[1]
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