7. Dezember 2018 | Hauptkirche St. Michaelis

Ein innerer Weg von A bis Z

07. Dezember 2018 von Kirsten Fehrs

Ökumenischer Gottesdienst anlässlich der Eröffnung des CDU-Bundesparteitages in Hamburg

Predigttext: Jesaja 35,3-7.10

Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie! Sagt den verzagten Herzen: „Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.“ Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch, und die Zunge des Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. […] Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.

 

Liebe Schwestern und Brüder,

müde Hände, wankende Knie, verzagte Herzen – nein, ehrlich, dieser Text ist nicht ausgesucht worden im Blick auf einen ja durchaus aufregenden Parteitag. Es handelt sich schlicht um den in unserer Ordnung vorgegebenen Text für den zweiten Sonntag im Advent. Was nicht heißt, dass er nicht aktuell wäre … Und wie sehr solche alten Worte und Bilder einen tatsächlich verstehen können einschließlich der eigenen Sehnsüchte: Als Erlöste übermorgen wiederzukommen in diese schöne Kirche, voller Freude und Wonne, ohne Seufzen – das wäre doch was. Der Prophet Jesaja versteht etwas von Politik.

Denn er spricht über das, was über den jetzigen Moment hinaus weist. Welch‘ heilsame Selbstrelativierung. Genau dahinein sagt er: „Seid getrost, fürchtet euch nicht. Seht, da ist euer Gott.“

Also: hebt eure Augen auf. Aufrecht und aufgerichtet – das ist die Haltung dazu. In aller Freiheit eines Christenmenschen. Gerade jetzt im Advent. Der Advent markiert ja eine Übergangszeit von den dunklen Tagen der Buße und Trauer hin zum Licht, zu dem, der alles neu machen wird. Es ist ein Weg. Ein innerer Weg von A bis Z, von der Angst bis zur Zuversicht.

Jesaja nämlich spricht zu ängstlichen Menschen. Mit zitternden Knien, die nicht mehr gewöhnt sind, dass man sie beugt, um zu beten. Die Israeliten im Exil hatten keinen Halt mehr. So zutiefst heimatverloren sind sie, weil es ihnen so vorkommt, als sei Gott – ja unbekannt verzogen und ließe sie unbehaust zurück. Und so warten auch sie. Allein sie wissen nicht, worauf. Was wird werden? Was oder wer wird kommen? Um zu lösen, was die Angst in einem fesselt?

Verzagte Herzen … Ich beobachte, dass viele Menschen derzeit in so einem ängstlichen Wartezustand verharren. Der Soziologe Heinz Bude spricht sogar von einer „Gesellschaft der Angst“. Da kommt manches zusammen: Angst vor dem Verlust des Wohlstands, vor Umweltzerstörung (gerade bei Jugendlichen), Angst vor der Digitalisierung (gerade nicht bei Jugendlichen) oder auch Angst vor Flüchtlingen (Bei wem eigentlich wirklich?). Das Paradox dabei ist, dass die meisten Menschen in Deutschland ihre persönliche Situation derzeit so gut einschätzen wie selten zuvor. Ist also die alles überdeckende Angst die, das Erreichte zu verlieren?

Klar, das wird keiner bestreiten, verlieren sich alte Sicherheiten – es gibt ein Grundgefühl der Verunsicherung. Mich besorgt auch, wie der Raubbau an der Natur voranschreitet und wie zerbrechlich der Frieden ist. Der Prophet Jesaja hat übrigens in dieser Hinsicht ebenfalls kein Blatt vor den Mund genommen. Er hat allen, die es hören und nicht hören wollten, sehr drastisch die Folgen ihres zerstörerischen Lebensstils geschildert. Und doch stehen zwischen diesen Anklagen immer wieder Hoffnungs- und Friedensbilder wie diese: „Sagt den verzagten Herzen: ,Seht, da ist euer Gott. Der kommt und wird euch helfen.‘ Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden.“

Hört und seht da hin, hebt die Augen auf – Aufrichtigkeit ist die Haltung. Sie ist es, die dem Menschen Sicherheit gibt. Nichts ist verunsichernder für ängstliche Menschen als die Lüge. Nichts toxischer als die Abwertung alles Guten und Gelungenen. Als Kirchenleute ebenso wie Politiker oder Journalistinnen müssen wir für eine Haltung der Aufrichtigkeit stehen. Heißt: die offene und schonungslose Analyse wagen. Und dies zugleich in der Gewissheit tun, dass wir auf gutem Grund stehen. Zeigen, dass wir einerseits Realisten sind und Probleme benennen, aber doch andererseits immer damit rechnen, dass zwischen Himmel und Erde viel mehr möglich ist, als wir jetzt schon erfassen können.

Als Politikerinnen und Politiker stehen Sie besonders unter Druck, wie ich aus vielen Gesprächen weiß. Eben: einerseits die Realitäten im Blick zu haben, andererseits die eigenen Werte nicht zu verraten. Zugleich immer konfrontiert zu werden mit Menschen, die ihre Ängste an Sie herantragen, projizieren, bisweilen auch aggressiv herausschreien. Ich stehe mit Bewunderung davor, wie so viele von Ihnen immer wieder den Ausgleich versuchen. Um herauszukommen aus Streit und Verhärtung. Wie Sie es trotz persönlicher Enttäuschungen und innerer Vergeblichkeitsgefühle immer wieder schaffen, sich zu motivieren, um das Beste für unser Land zu suchen. Natürlich kann, ja muss man darüber streiten, wie das Beste genau aussieht, aber genau dies im Frieden und für den Frieden zu tun, schreiben einem die alten Propheten wie Jesaja immer wieder ins Herz. Nicht nur durch Worte, sondern auch durch versöhnliche Zeichen und Taten.

Dazu zum Schluss eine Hamburgische Geschichte – von St. Pauli. Woher sonst? In der Kirchengemeinde dort hat man einen ganz eigenen Weg der Versöhnung gefunden, mitten im großen Streit, während der aufwühlenden Tage des G20-Gipfels. Die St. Pauli-Gemeinde hielt durchweg inmitten all der Spannungen und der Angst ihren Kirchgarten offen. Und jeden Abend lud sie Nachbarn, Demonstranten und Polizisten gemeinsam an einen Tisch. Essen, trinken, einander halten, auch aushalten, streiten, sich einigen, beten, segnen. Sich in die Augen sehen, den Menschen sehen und einmal nicht die Funktion. Das hat alle zur Ruhe – in den Frieden – gebracht. „Danke für die tolle Gastfreundschaft“, schrieb später ein Hundertschaftführer der Bereitschaftspolizei aus Thüringen an den Pastor. An der Kirche übrigens hatte die Gemeinde ein Banner aufgehängt: „Welcome to Heaven“.

Der Angst der Welt den Himmel entgegensetzen – mit Glaube, Liebe, Hoffnung. Lasst uns zeigen, dass wir nicht aus Angst leben, sondern aus lebendiger Zuversicht! Ich wünsche Ihnen von Herzen Kraft und Segen für heute. Und das Morgen auch.
Amen.

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