25. Dezember 2015 | 1. Weihnachtstag | Dom zu Lübeck

Gott kennt keine Obergrenzen

25. Dezember 2015 von Gerhard Ulrich

Erster Weihnachtstag, Predigt zu Titus 3, 4-7

Liebe Gemeinde!

„Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes, unseres Heilands,  machte er uns selig – nicht um der Werke der Gerechtigkeit willen, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit – durch das Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist, den er über uns reichlich ausgegossen hat durch Jesus Christus, unsern Heiland, damit wir, durch dessen Gnade gerecht geworden, Erben des ewigen Lebens würden nach unsrer Hoffnung.“

Gott kommt in die Welt. Mit seiner Freundlichkeit, seiner Menschenliebe. Ohne etwas zu fordern, ohne Preisschild und ohne Bedingungen im Kleingedruckten. Einfach, weil er barmherzig ist, liebt, was er geschaffen hat. Das ist das, was wir feiern, worüber wir fröhlich werden, was Seligkeit erzeugt: An Weihnachten vor allem im Leuchten der Kinderaugen zu sehen, in den Liedern zu hören, im Schmuck der Lichter sich spiegelnd: aus der Zeit in die Zeit gefallen, Spuren des Friedens und der Liebe. Übergossen mit der Fülle des Lebens, angesteckt zur Freude.

Auch für uns ist diese Erinnerung lebensnotwendig!

Denn unsere Welt ist in Unordnung. Krieg und Gewalt; Bürgerkrieg und Terror; Millionen Menschen auf der Flucht; Hass und Elend. Unsicherheit im eigenen Land: Was wird werden, was können wir schaffen, wie viele Menschen aus der Fremde vertragen wir und können wir tragen?

Terror  – in Paris, in Ankara, in Istanbul, in Beirut, in Palästina, Jerusalem – und Krieg in so vielen Teilen der Welt. Unsicherheit und Angst. Da ist ein Sehnen nach  neuer Orientierung, nach Freundlichkeit, nach Barmherzigkeit!

„Als aber erschien die Freundlichkeit und Menschlichkeit Gottes…“ – Das Vermisste, der schmerzlich Vermisste, kommt unserer Seele nahe an Weihnachten. Und bedient unsere Sehnsucht nach Heil, nach Frieden – danach, dass alles ganz anders sein könnte, dass wir ganz anders könnten. Eine Erscheinung sollten wir haben: ein Bild, das von außen nach innen kommt, und uns ausrichtet, das nicht Traumbild ist, sondern Lebensbild; nicht flüchtig, sondern nachhaltig. Und das heißt ja, wir brauchen etwas, das mehr ist, als von uns gemacht; brauchen etwas, das Gott in die Hand nimmt, damit es nicht in Menschenhand fällt, eine Kraft, die mehr ist als unsere. Unerwartetes,  nicht von uns Gemachtes muss kommen, hinein in die Welt, den Riss und die Kälte der Herzen verdrängen:

Ich habe ein Bild mitgebracht. „O Heiland reiß‘ die Himmel auf“ von Beate Heinen. Ich finde es sehr aktuell, obwohl schon mehr als 20 Jahre alt. Eines, das sich hineinschiebt in unsere Realität, über die Bilder von Flüchtlingszügen zwischen Grenzen. Menschen, die wir nicht kennen.

Mitten in dem Zug der Menschen, mitten in der Tristesse der Fliehenden, der Elenden, mitten in ihrer Anonymität: die Heilige Familie, Gott, der ein Kind wird, der herunterkommt zu den Heruntergekommenen. Er bleibt nicht unerreicht im Himmel oder wo immer wir ihn verorten. Er ist erschienen. Und wo er ist, taucht die Welt in ein neues, freundliches Licht.

Mitten unter denen, die nicht wissen, wohin, ist Gott. Ist schon da, der Friedefürst. Lässt sich treiben von der Masse. Ist mit denen, die ausziehen aus Jammertälern. Die hinter sich lassen wollen Tod und Terror. Die darauf bauen, dass der Himmel aufreißt und sich zeigt eine Welt, in der sie ein Zuhause finden, willkommen sind. Die Heilige Familie: sie trägt den Zug der Menschen.

Dort bekommt Gott ein Gesicht: es ist erschienen seine Freundlichkeit und Menschlichkeit.

Was da so aufgerissen leuchtet, wirkt wie eine Kluft. Kenner schauen im Gebirge genau nach solchen Orten, finden dort Spuren von Edelsteinen.

Hier das Smaragdgrün wie auch das Saphirblau der Kleidung der Maria, auf der es wie von Diamanten blitzt, deutet darauf hin, dass dies ein Ort ist, an dem Wunderschönes, Wertvolles, Glänzendes geborgen ist: Siehe, da ist euer Gott!

Das Schönste, das Wertvollste ist bei Gott gerade gut genug für uns. Wo er ist, wird die Welt farbig, hoffnungsgrün, liebesrot, glaubensblau. Das Rot, das sich über die Rücken der Menschen schiebt, es ist, als ob neues Blut, neuer Lebenssaft in die wie leblos dahinziehenden Leiber gerät: neues Leben von dem her, der in der Krippe Mensch geworden ist. Der größte Schatz mitten im Leben. Er ist es, der Sohn, der Alles-Retter, der die Welt in neues Licht taucht, das denen, die im Finstern hocken, den nicht mehr erhofften Weg weist.

Hin zur Krippe. Dann sehen wir nicht nur die Heilige Familie. Sehen, wie die Farbe der Liebe, das Rot zugleich des Blutes, von jenen getragen wird, die im Finstern dahinwandern: der, der da geboren ist, ist der, der ans Kreuz geht, der liebt über den eigenen Tod hinaus.

Das Kreuz Christi weist auf den hin, der ans Kreuz genagelt worden ist, weil er für eine offene Gemeinschaft gelebt hat; weil er bei sich diejenigen aufgenommen hat, die nicht wussten, wohin.

Christus hat keine Angst vor dem Fremden; er lebt die Integration und den Respekt vor dem Anderen und seiner oder ihrer Kultur. Er weiß: Der neue Geist der Liebe überwindet Sorge und Angst. Gott hat uns nicht übergossen mit einem Geist der Furcht! „Fürchtet euch nicht!“ ruft der Engel den Hirten zu, und wir hören es! Darin zeigt sich das „Christliche“ am Abendland, dass wir Vielfalt als Reichtum erkennen und nicht als Störung, dass wir Toleranz üben – so dass wir in dem ganz Anderen etwas vermuten, das uns fehlt und ergänzt. Darin sind wir wahre „Erben der Hoffnung“, wenn wir uns frei fühlen, jenen die Tür nicht zu verweigern, die bei uns Schutz und Barmherzigkeit suchen; wenn wir nicht so frei sind, nicht zu teilen, was wir haben an Nahrung und Geld, Freiheit und Frieden.

„Als  aber erschienen die Freundlichkeit und die Menschlichkeit Gottes, unseres Heilands, machte er uns selig…“ – Mitten in unserer verrückten Welt: Gott. Der uns liebt. Indem Gott Mensch wird, rückt uns das Maß des Menschseins auf die Haut. Schiebt sich seine Menschenfreundlichkeit über die Unmenschlichkeit dieser Welt; seine Gerechtigkeit über die Selbstgerechtigkeit. Er schenkt uns die Fülle, aus der wir schöpfen und leben dürfen – wie wir es an Weihnachten bei uns zu Hause, in den Straßen, überall darstellen: Gottes Wirklichkeit geht nicht auf in dem, was wir sehen; seine Welt, unser Leben, erschöpft sich nicht in dem, was wir können, wissen, erleben, erleiden, erdulden, erfassen.

Seligkeit liegt nicht in der Abschottung, nicht hinter geschlossenen Grenzen, wird nicht gestaltet mit Mauern um Staaten! Die Freundlichkeit und Menschenliebe Gottes gilt jedem Menschen ohne Unterschied! Gott, der Mensch wird in der Krippe, kennt keine Obergrenzen, wenn es um die Elenden geht. Er sendet uns zu denen, die im Finstern sitzen. Und auch zu denen, die in Ängsten sind um ihre eigene Zukunft angesichts der Flüchtlinge im Land: Das „Fürchtet euch nicht!“ gilt auch ihnen, soll auch ihnen ausgerichtet werden: Fürchtet euch nicht vor Veränderungen, vor dem Fremden.

Der, der erschienen ist, macht uns frei, in seiner unordentlichen Ordnung zu gehen: hin zu den Schwachen; aufzunehmen die Fremden.

Das ist ja zu erfahren von vielen, die sich engagieren für die Flüchtlinge – alleine aus den Kirchengemeinden unserer Nordkirche sind das derzeit mehr als 12.000, die ihre Gaben und ihre Zeit einsetzen, tun, was not ist, ohne zu fragen nach Herkunft und Motiven; sie erzählen, dass diese Zuwendung sie selbst erfüllt, selig macht, wenn sie Deutschunterricht geben, in der Kleiderkammer das Nötigste austeilen, beraten oder einfach zuhören oder mit ihrem Geld weiterhelfen. Da hat sich schon etwas verändert in dieser Zeit: Jene, die nicht wissen, wie sie ihr Leben gestalten sollen und können, geraten in den Blick. Und die vielen Flüchtlinge und ihre Geschichte führen uns auch jene näher vor Augen, die in unserer Gesellschaft heimatlos sind, allein oder am Rande, ohne Obdach und Wertschätzung.

„Nachdem erschienen die Freundlichkeit und Menschlichkeit Gottes…“ – Wem das nicht nur eine flüchtige Erscheinung bleibt, setzt sich dafür ein, dass es auf dieser Welt absehbar keinen Grund mehr geben muss, dass Menschen auf die Flucht gehen; dann zeigt sich die Menschlichkeit Gottes in der Menschlichkeit seiner Ebenbilder auf Erden; dann wird erscheinen die Gerechtigkeit, die alle Menschen teilhaben lässt am Reichtum der Welt – nicht nur einige wenige; dann wird erscheinen, dass genug für alle da ist und niemand hungern muss, weil die, die haben, teilen – nicht weil sie Gutmenschen sind, sondern weil selbstverständlich ist, dass alle haben, was sie brauchen; dann wird erscheinen, dass unser Leben hier nicht länger auf Kosten des Lebens dort und auf Kosten der ganzen Schöpfung geht; dann wird erscheinen, dass dem Hass des Terrors nicht mit Hass geantwortet wird, sondern mit der irritierenden Stimme der Freiheit und der Lust an diesem Leben. Denn Bomben und Krieg sind eine der Wurzeln des Terrors – nicht seine Überwindung! Dann wird erscheinen der Mut, anzufangen, aufzuhören mit dem Wahnsinn der Waffenlieferungen und mit der Zerstörung der guten Schöpfung Gottes. Die „Erben der Hoffnung“ verweisen auf Gott: es ist nicht Gottes Wille, wenn in seinem Namen Kriege geführt werden – das soll um Gottes Willen nicht sein. Es ist nicht sein Wille, dass Gewalt und Hass Menschen verjagen und töten: das ist von Menschen entfachter Irrsinn! Terror hat mit Religion nichts zu tun, sondern ist verbrecherischer Missbrauch des Namens Gottes!

Die, die übergossen sind von Gott in Christus mit dem heiligen Geist: sie stehen nicht da wie begossene Pudel, sondern sie stehen auf, schreiten ein, widersprechen – kehren um. Und werden neu.

Gott ist in der Freundlichkeit und Menschlichkeit zu finden, die sich nicht zufrieden gibt mit der Realität der Welt, die scheinbar ohne Alternative ist. Siehe, da ist euer Gott! Nichts muss bleiben wie es ist! Fürchtet euch nicht! – So hatten es die Hirten gehört. Und waren verstört.

Die alte Ordnung funktioniert nicht mehr. Da kommt eine Flüchtlingsfamilie, zieht ein in unserer Stadt: Und nichts ist mehr wie vorher. Die Hirten erleben: wir sind die Ersten – nicht länger das Letzte!

„Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war…“

So findet die Seligkeit Ausdruck, so sehen die aus, die übergossen sind mit dem Geist der Liebe und der Barmherzigkeit, des Friedens und der Freiheit: Sie legen die Furcht ab und kommen auf die Beine und gehen und sehen und: gehen weiter und erzählen, verkündigen die Wahrheit, die sie gesehen haben mit eigenen Augen – kaum zu glauben, aber wahr! Sie tun den Mund auf, schweigen nicht von der Hoffnung, die sie erfasst.  

Weihnachten befreit zu dieser Freiheit: den Mund aufzutun. Weiterzusagen, was wir empfangen haben. Den Stern, der den Weg leuchtet, nicht auf dem Dachboden verschwinden zu lassen bis zum nächsten Jahr, sondern leuchten zu lassen, was uns einleuchtet.

Gerade in Zeiten, in denen es uns die Sprache verschlägt, in denen manche Hoffnung nicht standhält der Realität, der bitteren, darf nicht schweigen das Wort des Friedens und der Ermutigung, der Erinnerung an eine Kraft, die größer ist als unsere Kraft, an Frieden, der höher ist als alle Vernunft. Da darf nicht schweigen das Wort der Freundlichkeit und der Barmherzigkeit. Gegen den Hass und den Neid und gegen alle Gewalt braucht es den Mut, anzufangen aufzuhören.

Der Grund allen Lebens lebt und mischt sich unter uns, mischt diese Welt auf. Und überall da, wo Menschen auf ihn bauen, sich auf ihn verlassen, wird die wunderbare Botschaft der Weihnacht offenbar: Was verschlossen scheint, muss verschlossen nicht bleiben. Gott lässt uns sehen, was offenbar ist: seinen Frieden, seine Gerechtigkeit, seine Freundlichkeit und Menschlichkeit. Lässt uns all das sehen in dem Kind im Stall, dessen Eltern ebenfalls vor verschlossenen Türen erst stehen mussten, bevor ihnen aufgetan wurde.

Ein Bild, dessen Friedensbotschaft sich niemand entziehen kann. Und das uns ahnen und gewiss sein lässt: Dieser Friede, der höher ist als alle unsere Vernunft, diese Freundlichkeit und Menschlichkeit Gottes ist stärker als Hass und Gewalt, kann vertreiben die Angst vor dem, was kommen mag – weil der gekommen ist, der ausrichten lässt: Fürchtet euch nicht! Denn siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird!

Amen.

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