Hinter Gittern: Lübecker Pilotprojekt schafft Perspektiven für ältere Gefangene
17. August 2016
Aufstehen, essen, warten, essen, Hofgang, warten, essen, schlafen: Für die 400 Gefangenen der Justizvollzugsanstalt Lübeck schnurrt das Leben zusammen auf sieben Quadratmeter. Sieben Tage die Woche, 23 Stunden am Tag. Für die 28 männlichen Inhaftierten über 60 Jahre hat Zeit eine besonders schonungslose Komponente. In der Pilotgruppe „Arbeit mit männlichen Lebensälteren“, finanziert vom Land Schleswig-Holstein und in Trägerschaft des Kirchenkreises Lübeck-Lauenburg, haben die Sorgen und Nöte der 60plus-Inhaftierten Raum.
Sozialpädagoge und Diakon Heiko Emmerinck (64) hat jahrelang in der JVA als Abteilungsleiter in der Sozialtherapie gearbeitet, nach seinem offiziellen Ruhestand bietet er nun einmal wöchentlich eine Gesprächsgruppe für Gefangene über 60 an. Deutschlandweit gehört Lübeck damit zu den Vorreitern. „Ich möchte diese Gruppe aus der Isolation holen und ihnen eine Lebensperspektive für die Zeit nach der Strafhaft aufzeigen“, sagt er.
Demografischer Wandel hinter Gittern als neue Aufgabe für Kirche
Gefängnisseelsorger Friedrich Kleine hat die Zusammenarbeit zwischen Justizvollzugsanstalt und Kirchenkreis vermittelt. Er weiß: „Den älteren Gefangenen ist viel stärker bewusst, dass ihr Leben begrenzt ist.“ Zur Sorge, ob nach dem Verbüßen der Haftstrafe eine Rückkehr ins normale Leben möglich sein wird, kommen gesundheitliche Probleme, so Kleine. „Der demografische Wandel ist auch im Gefängnis angekommen, damit müssen wir als Kirche umgehen.“
Immer donnerstags erzählen die einheitlich grün gekleideten Männer bei Pulverkaffee und Keksen von ihrer Woche. Rückenschmerzen, Zahnprobleme, Post von den Enkelkindern, keine Post von der Familie, schlechte Nachrichten vom Anwalt; der nächtliche Krach der jugendlichen Zellennachbarn nervt, das Sportangebot ist für Senioren ungeeignet. Ein 76-jähriger Häftling macht sich Sorgen um sein nachlassendes Gehör.
Gefangen auf der Zielgerade des Lebens
Was sie eint, ist das Wissen, sich auf der Zielgeraden des Lebens zu befinden. „Wenn ich rauskomme, bin ich 72 Jahre alt“, sagt einer aus der Gruppe. „Hier werde ich behandelt wie ein unmündiges Kind. Werde ich das schaffen, wenn ich wieder draußen bin? Und bleibt mir dann überhaupt noch Zeit?“ Ein junger Mithäftling habe versucht, ihn aufzuheitern, indem er von seinem Großvater berichtet hat, der 93 geworden ist. „Und was ist, wenn ich nur 73 Jahre alt werde? Und wenn ich den Sprung in die selbstständige Freiheit nicht mehr schaffe?“ Die Zeit hinter den Mauern der Justizvollzugsanstalt steht nur scheinbar still.
In den zehn Minuten Rauchpause im Innenhof lässt sich die Sehnsucht nach Normalität erahnen. Bevor er den Antrag auf „Ausführung in Begleitung“ stellen werde, müsse er erst die 16 Kilogramm abnehmen, die er während der Haft zugenommen habe, erzählt ein Gefangener. „Und wenn ich drei Wochen hungern muss. Ich passe ja in meine alten Hemden gar nicht mehr rein.“ Denn das ist die größte Sorge der älteren Gefangenen: Sie kommen in ihr altes Leben zurück, und es passt ihnen nicht mehr.