In tiefer Not das Neue sehen
19. April 2014
Kein Neuanfang ist leicht zu haben. Schon gar nicht in tiefer Not. Und doch kann auch in der Not der Keim für etwas Neues stecken. Man muss es "nur" sehen. Unser Autor hat es getan und einen "leisen Lebensanfang" erlebt.
Ich erinnere mich an das erste Gefangenenlager im Februar 1945 in Belgien: 200 Mann in einer Baracke, dreistöckige Pritschen, zwei Kübel für die Nacht. Und in der Nacht terrorisierten Nazi-Schergen die Zweifler am „Endsieg“. Meine Sinne erstarben, ich wollte nichts mehr sehen und hören, riechen oder schmecken. Meine Gefühle verschwanden hinter einem Panzer aus Unberührbarkeit und Gleichgültigkeit. Ich spürte die Gefangenschaft nicht mehr, weil ich nichts mehr spürte.
"Meine Sinne erstarben, ich wollte nichts mehr sehen und hören"
Im Mai 1945 mussten wir einen Güterwagen aus dem Lager schieben, und plötzlich stand da ein überschwänglich blühender Kirschbaum. Die Fülle des Lebens sah mich an. Mir wurden die Knie weich und ich fühlte, wie das Leben in mir wieder wach wurde. Ich sah die Farben der Blüten, und das Blut pulsierte wieder in meinen Adern. Als wir ins Lager zurückkamen, schmerzte die Gefangenschaft wieder. Das war ein leiser Lebensanfang für mich, und die Schmerzen waren die Lebenszeichen.
Im Sommer 1946 war ich in einem Arbeitslager in Schottland und hatte keine Aussicht auf Entlassung. Ich fühlte mich von Gott und allen guten Geistern verlassen. Da bekam ich eine Bibel in die Hand und fand in den Klagepsalmen Worte für mein Elend. Die Passionsgeschichte Jesu sprach zu mir. Besonders meine Gottesklage. Ich fühlte, da ist einer, der dich versteht, der deine Verlassenheit und noch viel mehr durchgemacht hat. Ich vertraute mein Leben Christus an und wurde zuversichtlich, dass er mich mitnimmt in seine Auferstehung und sein Reich.
"Die Gefangenschaft erwies sich als ein Segen"
Das war eine Lebenswende, die ich nicht gesucht hatte. Was am Anfang wie ein Fluch aussah, die Gefangenschaft, erwies sich als ein Segen. Ich kam hinein mit verletzter Seele. Und als ich entlassen wurde, war meine Seele genesen.
Das habe ich in meinem Leben gelernt: Eingedenk des Endes und des Anfangs Christi geben wir uns nicht auf, sondern erwarten, dass auch für uns in jedem Ende ein neuer Anfang steckt. In jedem Nein Gottes liegt ein heimliches Ja Gottes verborgen. Wir werden zu neuen Anfängen fähig, wenn wir bereit sind loszulassen – nicht nur, was uns lieb und teuer ist, sondern auch loszulassen, was uns quält. Wenn wir den neuen Anfang suchen, wird er uns finden. Und dann wird „unser Mund voll Lachens“ sein.
- Autor Jürgen Moltmann ist einer der bekanntesten deutschsprachigen evangelischen Theologen. Von 1967 bis zu seiner Emeritierung 1994 war er Professor für Systematische Theologie an der Universität Tübingen. Internationale Anerkennung verschaffte ihm 1964 sein Werk „Theologie der Hoffnung“. Moltmann, der in einer nicht-kirchlichen Familie aufwuchs, geriet als 18-jähriger Luftwaffenhelfer am Ende des Zweiten Weltkriegs in britische Gefangenschaft und begann dort ein Studium der Evangelischen Theologie, das er 1948 an der Universität Göttingen fortsetzte. Ab 1952 war er Pastor in Bremen-Wasserhorst sowie Studentenpfarrer, bis er 1957 einen Ruf auf eine Professur an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal erhielt. 1963 wechselte er an die Universität Bonn. Zwischen 1980 und 1995 erschienen in fünf Bänden seine Systematischen Beiträge zur Theologie, in denen er das gesamte Gebiet der Dogmatik neu bearbeitete.