19. Mai 2019 | Martin-Luther-Kirche zu Hamburg-Alsterdorf

Kantate! Singet! 800 Jahre Alsterdorf!

19. Mai 2019 von Kirsten Fehrs

Sonntag Kantate, Predigt zu Lukas 19,37-40

Kantate! Singet! Alles was recht ist, liebe Festgemeinde, dieser Aufforderung heute kommen Sie wirklich ausgiebig nach. Und nicht nur heute. Wenn ich mir Ihr Festprogramm in diesem Jahr anschaue – gute Güte, da gibt es ja nichts, was es nicht gibt! Von Praetorius, Schumann und Bach über Operette, Klezmer-Musik hin zu Jazz, zu hören von Alsterchören, Gospelchören, Kinderchören. Aber auch Jubilieren für Fortgeschrittene steht auf dem Programm (sehr verheißungsvoll, diese Seniorenarbeit hier), da gibt‘s Kultur im Koffer, Biographie in Cafés, Lyrik mit Noten, Big Gong und Flöten, großartig ist das alles!

Alsterdorf singt, aber hallo. Laut, leise, hoch und tief, ach, einfach schön statt schief, wie auch immer. Und Kirche mittendrin! Ich bin so dankbar, wie verbunden Sie als Gemeinden mit diesem Stadtteil sind: Gemeinsam mit allen setzen Sie sich mit Herz und Stimme ein für den guten Ton im Stadtteil. Für den guten Ton der Gemeinschaft und gegenseitigen Achtung – darauf kommt es in jeder Stadt an. Und dieser Ton klingt nur dann kraftvoll und trägt nur dann durch, wenn viele ihm seine Stimme geben und sagen: Ja, ich will singen von der Gnade. Was für eine Botschaft in dieser oft so ungnädigen Welt! Aufrichtend österlich und hoffnungsfroh. Ich freue mich, heute bei Ihnen zu sein und mitzufeiern, was sage ich: mitzusingen, ach ja – und zu predigen … vom Evangelium eben.

Die Menschen an der Straße in Jerusalem, als Jesus auf seinem kleinen Esel einzieht, die singen ja auch, sie jubeln, loben, toben und die Gruppe der Jünger besonders. „Gelobt sei, der da kommt, der König, im Namen des Herrn!“ singen sie und können gar nicht aufhören damit. Majestätisch huldvoll allerdings sollte man sich das nicht vorstellen. Oder gar als ästhetischen Kunstgenuss, wie eben von unseren Chören zu hören. Zumal in sämtlichen Evangelien von Chorproben speziell der Jünger nichts bekannt ist. Insofern kann man für den Wunsch der Pharisäer ein gewisses Verständnis aufbringen, wenn sie jammern: „Meister, weise doch bitte deine Jünger zurecht!“ Wer jemals in einer U-Bahn mit sangesfreudigen Fußballfans gesessen hat, das soll es in Hamburg ja auch mal gegeben haben, kann ein derart ordnendes, zivilgesellschaftliches Engagement doch durchaus gut heißen.

Scherz beiseite: Es geht bei diesem Gesang der Jünger um mehr als die Richtigkeit von Noten. Es geht um den guten Ton, um das Lob der Gnade, um die unbeirrbare Hoffnung auf Frieden inmitten römischer Gewaltherrschaft. Dieser Gesang der Jünger war insofern ein Bekenntnis, auch ein politisch brisantes Bekenntnis, ein Glaubensbekenntnis in ihrer Zeit. Deshalb hörten sie nicht auf damit, es immer wieder in ihre Worte zu fassen. So wie wir es ja auch tun. Beeindruckend haben wir das eben bei den Jugendlichen erlebt. Ich bin wirklich bewegt von euren sagenhaft starken Texten, Glaubensbekenntnisse 2019. Danke euch dafür!!

Und? Wie mag es 1219 gewesen sein? Als Alsterthorpe erstmals erwähnt wurde?

Erlauben Sie mir dazu einen kleinen europäischen Exkurs über die Ostsee hinüber. Denn Sie feiern Ihren 800. in wahrlich illustrer Gesellschaft. 1219 nämlich wurde auch Tallinn, die Hauptstadt von Estland erstmals erwähnt. Die feiern derzeit auch unentwegt. Und es gibt eine schöne Geschichte dazu: Damals, am 15. Juni 1219, sah es nicht gut aus für den dänischen König Waldemar II., dessen Truppen in Estland kämpften. Sie waren schwer am Verlieren, als sich plötzlich der Himmel öffnete, so erzählt es die Legende, und eine große rote Flagge mit einem weißen Kreuz vom Himmel fiel: der Dannebrog, bis heute die Flagge von Dänemark, eine der ältesten Nationalflaggen der Welt. Von diesem himmlischen Zeichen, so heißt es weiter, fühlten sich die Dänen so motiviert und gestärkt, dass sie am Ende den Kampf doch noch gewannen.

Der Clou dabei: Alsterdorf, das bis 1803 ja auch dänisch war – die längste Zeit seiner Geschichte – feiert Geburtstag ausgerechnet zusammen mit der dänischen Flagge. Und zusammen mit einer Stadt, die europäischer nicht sein könnte: Tallinn, mit seiner großen, wechselhaften Geschichte.

Wenn das keine vielsagende Fügung ist, in diesen Maitagen 2019, liebe Gemeinde! Denn es ist doch jetzt mehr als dran, den Sinn für die historisch tief gegründete europäische Verbundenheit zu schärfen! Erschreckend ist doch, wie derzeit rechtspopulistische, nationalistische, in jedem Fall ungnädige Töne zunehmen, die die Länder auseinandertreiben und Europa zu spalten versuchen. Unverantwortlich, sage ich, die Politiker*innen, die lautstark und ganz gezielt ausschließlich ihren Überdruss über Europa zum Ausdruck bringen und die nicht mehr vermitteln und verstehen wollen, was für ein unfassbar wertvoller Schatz die friedliche Verständigung der Völker auf unserem Kontinent ist, 74 Jahre lang schon! Ein Schatz nicht nur für uns, sondern auch für die weltweite Politik, in der Kooperation und Verständigung – ja, ein Miteinander für den guten Ton der Solidarität und Mitmenschlichkeit– mehr denn je gebraucht werden!

Wir stehen eine Woche vor einer Europawahl, die in manchem eine Schicksalswahl wird. Unser Kontinent braucht jetzt Menschen, die aktiv ein neues Lied für Europa singen. Kantate! Europa braucht Sie, die sich vernehmbar und konstruktiv einbringen für unsere Demokratie, mit Ihrer Stimme. Als evangelische und katholische Bischöfinnen und Bischöfe im Norden haben wir dazu eine gemeinsame Erklärung formuliert, in der wir alle inständig bitten: Gehen Sie zur Europawahl. Machen Sie deutlich, dass unser Denken und Handeln weiter reicht als nur bis zum nächsten Schlagbaum! Weiter reichen muss, weil es sonst mit dem Frieden beim besten Willen nicht mehr gelingen kann!

Wie wichtig der Zusammenhalt für ein gutes, friedvolles Leben ist, weiß man hier schon seit den Anfängen Alsterdorfs. Damals entwickelte sich das große Netz der Hanse, mit all den vielen Wegen zu Lande und zu Wasser. Man machte sich bewusst, wie der Handel Menschen verbunden und das Leben vielfältiger und reicher gemacht hat. Also wurden Verbindungswege entdeckt und geschaffen. Verbindungswege auch wie die Alster, die Sie in ihrer ganzen Schönheit direkt vor der Haustür haben.

Heute sind da die Güterumgehungsbahn und die großen Straßen. Und zukünftig eine neue, wirkliche Untergrund-Bahn, vor ein paar Tagen erst hatten Sie eine Stadtteilversammlung zu diesen Plänen, sogar hier in dieser Kirche. Verbundenheit schafft Stärke, das ist in die Genetik dieses Stadtteils eingewoben. Mit einer Stadtteilkonferenz, die es meines Wissens sonst nirgends so gibt. Verknüpft auch mit einem kirchlichen Verbindungsmodell: vier Gemeinden (Martin-Luther Alsterdorf, St. Martinus Eppendorf, Paul-Gerhardt Winterhude, St. Peter Groß Borstel), die im Alsterbund bestens kooperieren – eben: gemeinsam stark evangelisch mitten im Dorf.

Ein Alsterdorf, das wiederum mitten in Hamburg liegt und in dem vergleichsweise wenige Hamburger wohnen, nur 0,8 Prozent. Mit keinem eigentlichen Zentrum. Aber dafür mit einer Gartenstadt, den Genossenschaftsbauten, der Evangelischen Stiftung, einem Villenviertel, den Hochhäusern am Rand der City Nord – unterschiedlichste Quartiere also bilden einen vielfältigen, bunten Stadtteil, der von seiner starken Vernetzung lebt.

So haben Sie‘s erzählt, und so ist es hier und heute zu erleben. Gott sei Dank. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass Menschen sich einigen und Kompromisse schließen, dass sie sich verbinden können: von Haustür zu Haustür, von Stadt zu Stadt, von Kontinent zu Kontinent.

Gott sei Dank gibt es Menschen wie Sie! Denn es gibt auch die anderen, leider, die niederschreien. Kleinmachen. Entwürdigen. Wir wissen darum. Und Jesus, damals da in Jerusalem, weiß auch genau um die Zerstörungswut der Feinde des Guten. Er weiß vom Hass, der in Trümmer schlagen kann. Mag sein, er hatte dies vor Augen, als er – aufgefordert von den Pharisäern, er solle dem Lobgesang der Jünger Einhalt gebieten – diesen erst einmal verstörenden Satz sagt: „Wenn diese [Jünger] schweigen werden, so werden die Steine schreien.“

Die Steine werden schreien – was für ein Bild. Ich höre sofort ein tosendes Weh und Ach zertrümmerter Bauten, höre den Widerhall von Schmerz und das Seufzen geschundener Kreatur. Dahinein: Kantate! Denn die Auferstehung Jesu, die Auferstehung ins Ostern unseres Lebens stimmt ja genau den Kontrapunkt an. Er setzt gegen jedes Verschweigen den Hoffnungsruf, um die Verzweifelten nicht in ihrer Ohnmacht zu belassen. Kantate! Lobt laut die Schöpfung, jede und jeder hier ist doch so wunderbar gemacht. Singt davon und hört nicht auf damit, um jeder Entwürdigung und Entrechtung des Menschen Einhalt zu gebieten. In Gottes Namen.

Über die 800-jährige Geschichte Alsterdorfs gab es ebenfalls Zeiten, da schrien Steine. Als etwa in den „Alsterdorfer Anstalten“ Menschen mit körperlichen und geistigen Einschränkungen am selbstbestimmten Leben gehindert und ausgegrenzt wurden, ja, wie sie während der Nazi-Diktatur völlig entwertet und grausam dem Tod ausgeliefert wurden. Von Christenmenschen in einer evangelischen Einrichtung! Die Scham ist groß. Und groß ist die Schuld.

Wie gut, dass die Evangelische Stiftung Alsterdorf sich mit ihrer Geschichte auseinandergesetzt hat, dass sie sich geöffnet und versucht hat, mitten im Stadtteil sichtbare Zeichen zu setzen dafür, wie eine Gesellschaft mit Menschen umgehen kann, die Assistenzbedarf haben. (Wer hat den eigentlich nicht?) Sie wissen: Sich der Verantwortung der Geschichte zu stellen, geht nie, ohne den Schmerz des Vergangenen zu vergegenwärtigen. So meint es unser Evangelium: In dieser Menschenwelt ist der Lobgesang nicht ohne Achtsamkeit für die schreienden Steine zu haben. Wir singen unser Osterhalleluja ja nicht jenseits dieser Welt, sondern in ihr. Kantate also! Damit wir sensibel bleiben und die Chance der Veränderung ergreifen. So wie es in diesem Stadtteil noch und noch geschehen ist: Verwandlungskünstler Alsterdorf. Mit einem Alsterdorfer Markt etwa, an dem einst großes Leid geschah und heute das Leben aufspielt. Grenzüberschreitend, aufmerksam, gastfreundlich, hinreißend inklusives Alsterdorf.

Solche Verwandlung ist Osterhoffnung live: Das Leben setzt seine Zeichen, wo es keiner erwartet. Und wir können Gott sehen, mitten unter uns. Schauen wir hin und singen wir davon. Immer wieder ein neues Lied von der Gnade des Herrn mitten im Dorf.

Damit der gute Ton der Mitmenschlichkeit in unserer Stadt und unserem Land, ja in Europa trägt und gewinnt – mindestens die nächsten 800 Jahre. Glück und Segen dazu, liebes Geburtstagskind. Und Friede natürlich, höher als alle Vernunft; er bewahre unser aller Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen.

Datum
19.05.2019
Quelle
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Von
Kirsten Fehrs
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