Vorstellung des Buches „Neue Anfänge?“

„Kirchliche Verdrängung und Bagatellisierung der NS-Verbrechen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten“

V.l.n.r.: Hans-Peter Strenge (Vorsitzender des Projektbeirates „Neuanfänge? Kirchen, Christen, Juden in Nordelbien nach 1945“) und Dr. Stephan Linck (Autor des Buches „Neue Anfänge?“)
V.l.n.r.: Hans-Peter Strenge (Vorsitzender des Projektbeirates „Neuanfänge? Kirchen, Christen, Juden in Nordelbien nach 1945“) und Dr. Stephan Linck (Autor des Buches „Neue Anfänge?“)© Silke Stöterau/Nordkirche

20. November 2013 von Mathias Benckert

Kiel. Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland (Nordkirche) setzt die Aufarbeitung der Geschichte ihrer Vorgängerkirchen fort. Am heutigen Buß- und Bettag (20. November) hat Dr. Stephan Linck die Ergebnisse seiner Studie „Neue Anfänge? Der Umgang der Evangelischen Kirche mit der NS-Vergangenheit und ihr Verhältnis zum Judentum. Die Landeskirchen in Nordelbien. Band 1: 1945-1965“ vorgestellt.

Dr. Stephan Linck fasste seine Ergebnisse zusammen: „Die Aufarbeitung der NS-Zeit in den vier untersuchten Landeskirchen von Eutin, Lübeck, Schleswig-Holstein und Hamburg war unterschiedlich. Während in der Lübecker Landeskirche eine Entnazifizierung stattfand, die in ihrer Gründlichkeit in Deutschland einzigartig war, wurden von der Eutiner Landeskirche ehemalige Nazi-Bischöfe als Pastoren eingestellt, die andernorts als untragbar galten.

Für alle vier ehemaligen Landeskirchen gilt aber gemeinsam, dass die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und den NS-Verbrechen weitgehend gemieden wurde. Stattdessen fand überwiegend eine unreflektierte Solidarisierung mit NS-Verbrechern statt, die mit einer Tabuisierung der Fragen nach konkreter Schuld und begangener Verbrechen einherging. Das Ausmaß, in dem dies stattfand, war bisher nicht bekannt. So forderte die Evangelische Kirche bereits 1949 pauschal die Freilassung inhaftierter Kriegsverbrecher. Zahlreiche Kirchenvertreter, ihnen voran die Bischöfe, setzten sich massiv für einzelne verurteilte Kriegsverbrecher ein, ohne jede Prüfung der Tatvorwürfe. So setzte sich der Bischof für Holstein für die Freilassung des Generalarztes der Waffen-SS, Karl Genzken ein, der im Nürnberger Ärzteprozess 1947 unter anderem wegen Menschenversuchen in Konzentrationslagern zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, weil dieser ein Sohn des einstigen Preetzer Hauptpastors war.

Im Verhältnis gegenüber dem Judentum ließ sich eine starke Diskrepanz zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein feststellen: „Während in der Metropole bereits Anfang der 1950er Jahre ein christlich-jüdischer Dialog begann, machte die schleswig-holsteinische Landeskirche noch 1960 mit einem Antisemitismus-Skandal Schlagzeilen, in dessen Mittelpunkt der Vorsitzende Bischof stand. Hier spielte sicher eine Rolle, dass in Hamburg einige Christen jüdischer Herkunft Brücken zum Dialog schlugen, die in Schleswig-Holstein kaum existierten. Zudem hatte die CDU, zu der die evangelisch-lutherischen Landeskirchen eine zunehmend enge Bindung aufbauten, in Hamburg und Schleswig-Holstein eine sehr unterschiedliche Ausprägung: Während in Hamburg verfolgte Christen jüdischer Herkunft wie der langjährige Vorsitzende und Auschwitz-Überlebende Erik Blumenfeld einen nachhaltig prägenden Einfluss auf die Landespartei ausübten, erlangte die schleswig-holsteinische CDU traurige Berühmtheit aufgrund ihrer Unterstützung von Kriegsverbrechern und Massenmördern.“

Hans-Peter Strenge, Vorsitzender des Projektbeirates „Neuanfänge? Kirchen, Christen, Juden in Nordelbien nach 1945“, lobte die Studie und bedankte sich ausdrücklich bei Dr. Stephan Linck für seine Arbeit. „Dr. Linck hat beeindruckend aufgezeigt, wie zwischen 1945 und 1965 das kirchliche Leben in den vier Landeskirchen in Schleswig-Holstein und Hamburg vom Schweigen bezüglich des Nationalsozialismus und des Krieges geprägt war.“ Strenge hoffe nun, dass die vorgelegten Ergebnisse zur Auseinandersetzung und Diskussion vor Ort anregen. Strenge stellte diese Studie in den Zusammenhang des Ausstellungsprojekts „Kirche, Christen und Juden in Nordelbien 1933-1945“. „Während diese Ausstellung durch die Kirchen Norddeutschlands wanderte, tauchte immer wieder die Frage auf, wie die Kirche nach 1945 mit ihrer NS-Vergangenheit umging und wie sie sich nach 1945 gegenüber dem Judentum verhielt.“ So entstand das Folgeprojekt „Neuanfänge?“, dessen erster Teil nun der Öffentlichkeit vorgestellt wurde Ein zweiter Band solle 2015 fertiggestellt sein und wird die Zeit bis zur Wiedervereinigung umfassen, so Strenge weiter.

Als Linck seine Forschungen im vorigen Jahr der Kirchenleitung vorlegte, war diese von den Befunden „erschüttert“, so Landesbischof Gerhard Ulrich in seinem Geleitwort. „Auch wenn es viele einzelne positive Befunde gibt, so ist das Gesamtbild unserer Kirche in den ersten Nachkriegsjahren von einer Verweigerung zur Auseinandersetzung oder gar zum Dialog mit dem Judentum geprägt.“ Weiter schrieb Ulrich: „Der Nationalprotestantismus, der den Nationalsozialismus in vielem den Weg bereitet hatte, konnte sich nach 1945 wieder durchsetzten. Auch wenn die Kirche in dieser Zeit beeindruckende Aufbauleistungen vollbrachte und maßgeblichen Anteil an der Integration der Flüchtlinge aus dem Osten Deutschlands hatte, bleibt doch die Tatsache beschämend.“ Es sei wichtig, dass wir uns dieser Geschichte stellen und uns mit den Versäumnissen und Fehlern unserer Kirche beschäftigen. „Dieses mahnt uns zur Demut“, so der Landesbischof.

 

Information:
Das Buch „Neue Anfänge? Der Umgang der Evangelischen Kirche mit der NS-Vergangenheit und ihr Verhältnis zum Judentum. Die Landeskirchen in Nordelbien. Band 1: 1945-1965“ von Dr. Stephan Linck ist erschienen in der Lutherischen Verlagsgesellschaft Kiel (ISBN 978-3-87503-167-6) <link http: www.kirchenshop-online.de neue-anfange.html link-extern>www.kirchenshop-online.de/neue-anfange.html, hat einen Umfang von 352 Seiten und kostet 17,95 Euro. Erhältlich ist es unter anderem in der Evangelischen Bücherstube Kiel, <link link-mail>bestellservice@buecherstube-kiel.de, Tel.: 0431 – 51 97 250.

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