1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland

"Unser Ziel ist es, dass die Menschen sich als Juden positiv wahrnehmen"

Nur wer miteinander spricht, kann das Verständnis füreinander fördern. Bischof Jeremias und Landesrabbi Kadnykov tauschten sich zu Beginn des Festjahres dazu aus, vor welchen Herausforderungen Jüdinnen und Juden heute in Deutschland stehen.
Nur wer miteinander spricht, kann das Verständnis füreinander fördern. Bischof Jeremias und Landesrabbi Kadnykov tauschten sich zu Beginn des Festjahres dazu aus, vor welchen Herausforderungen Jüdinnen und Juden heute in Deutschland stehen. © Annette Klinkhardt

08. Januar 2021 von Annette Klinkhardt

Ein erster schriftlichen Beleg für jüdisches Leben nördlich der Alpen geht auf das Jahr 321 zurück. In diesem Jahr feiern wir also 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Zum Auftakt des Festjahres sprach Bischof Tilmann Jeremias mit Landesrabbiner Yuriy Kadnykov über jüdische Traditionen, Vorurteile und Zukunftsziele.

Landesrabbiner Yuriy Kadnykov: Als ich das erste Mal von der Aktion gehört habe, hatte ich spontan zwei Fragen: Welches Deutschland? Und welche 1700 Jahre? (lacht) Im Ernst: Es ist natürlich eine schöne Perspektive, man hat eine Erwähnung des Kaisers von vor 1700 Jahren, dass die Juden, die römische Bürger waren, bestätigte und damit einen wissenschaftlichen Beleg.

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Rabbi Kadnykov© Annette Klinkhardt

Das heißt aber nicht, dass Juden nicht schon davor auf diesem Territorium gelebt haben. Meiner Ansicht nach existiert Deutschland erst seit 1871, vorher waren es unterschiedliche Fürstentümer, auch hier mit Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz, Vorpommern gehörte sogar zu Schweden. Aber es ist trotzdem ein guter Anlass, um in Deutschland mit jüdischer Kultur, Religion und Traditionen in Berührung zu kommen und natürlich um Menschen jüdischen Glaubens besser kennen zu lernen.

Tragödie der Shoah wirkt nach

Bischof Tilman Jeremias: Ich denke als erstes nicht an 1700 Jahre jüdischen Lebens, sondern an die letzten Jahrzehnte, und vor allem daran, dass in Mecklenburg-Vorpommern jüdisches Leben durch die Shoah vollständig ausgelöscht worden ist. Was für eine Tragödie, wir haben so viele Zeugen jüdischen Lebens verloren: Synagogen, die 1938 zerstört wurden, jüdische Friedhöfe, die geschändet wurden, kaum etwas ist geblieben.

Was für ein Segen, dass nach 1989 wieder Jüdinnen und Juden zugewandert sind und es jetzt wieder jüdisches Leben geben kann in unserem Land. Was für ein Segen, dass jetzt wieder jüdische Gottesdienste gefeiert werden in Rostock und Schwerin und dass es jetzt wieder Menschen gibt, die ein Gegenüber sind für unseren christlich-jüdischen Dialog. Wir brauchen unsere jüdischen Väter und Mütter im Glauben, um zu lernen im Gespräch und um zu lernen, wo unsere Wurzeln sind.

Koscher zu essen ist gar nicht so einfach

Yuriy Kadnykov: Die meisten unserer Gemeindeglieder kamen aus der ehemaligen Sowjetunion, weil man dort als Jude benachteiligt war. Es gab einen staatlich verordneten Antisemitismus. Man kam nach Deutschland mit einer gewissen Avance, mit einem Vertrauen in Deutschland, neues Leben aufzubauen – nicht für sich selbst, sondern für seine Kinder. Aber jüdisches Leben hat auch viel mit dem Alltag zu tun, das berührt auch Geschäfte. Ich meine nicht Klamotten, Kleidung, obwohl Levi’s… (Anmerkung: Levi bzw. Loeb Strauss, der Erfinder der Jeans, kam als Kind armer jüdischer Eltern nahe Bamberg auf die Welt), sondern Lebensmittel. Koscher zu essen ist schwierig in unserem Bundesland. Man darf auch nicht überall schächten.

In Rostock gibt es am 13. Januar eine interreligiöse Andacht zum Start ins Festjahr.  

Das Tierschutzgesetz steht hier der Religionsfreiheit gegenüber. Es gibt auch in unserer Gemeinde Vegetarier, aber zum Feiertag gehört für viele Juden der Konsum von Fleisch dazu. Man muss es bestellen, das ist ökologisch auch nicht so gut, wenn das Fleisch tiefgefroren aus Antwerpen oder Argentinien kommt.

Wir leben in einer Diapora, wir sind eine Minderheit. Da gibt es Schwierigkeiten

Auch das Gesetz zum Schabbattag ist nicht so ohne weiteres einzuhalten. Das ist unser Ruhetag. Viele haben dann zwar frei und die Kinder müssen nicht mehr in die Schule gehen, aber wenn man Arzt ist, muss man arbeiten. Das betrifft allerdings nicht nur Deutschland. Wir leben in einer Diaspora, wir sind eine Minderheit, da gibt es diese Schwierigkeiten.

Tradition der Beschneidung polarisiert

Tilman Jeremias: Ich erinnere mich an eine weitere Schwierigkeit, nämlich die Debatte um die Beschneidung. Das ist es so ähnlich gewesen, dass da plötzlich medizinische Gesichtspunkte eine große Rolle gespielt haben und gesagt wurde ‚die armen kleinen Kinder können sich nicht wehren dagegen‘ und gar nicht im Bewusstsein war, dass dies eine jahrtausendealte Praxis ist und Grundbestandteil jüdischen Glaubens.

Übrigens auch für viele Muslime. Weil wir das nicht mehr wissen und kennen, deswegen gibt es dann Widerstand dagegen und das macht jüdisches Leben in Deutschland nicht leichter.

Zur Person

Yuriy Kadnykov (Jahrgang 1975) wurde auf der Halbinsel Krim geboren. 2003 kam Kadnykov nach Deutschland und absolvierte am Potsdamer Abraham Geiger Kolleg eine Rabbinerausbildung und studierte gleichzeitig Jüdische Studien, Religionswissenschaft und Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam. Seit 2015 ist Yuriy Kadnykov Landesrabbiner in Mecklenburg-Vorpommern.

Yuriy Kadnykov: Wir haben einen Fall in unserer Gemeinde gehabt, da ging es um die Beschneidung eines kleinen Jungen. Sie sind zum Arzt gegangen, und obwohl die Mutter selbst Ärztin ist, musste sie sich ziemlich negative Kommentare anhören. Davon kann man leider nicht freikommen. Das war damals eine große Debatte, wir haben eine Runde gewonnen, aber es gibt keine Garantie, dass nicht in zehn Jahren wieder auf dem Tisch liegt.

Besuche fördern gegenseitiges Verständnis

Tilman Jeremias: Ein Zeichen, dass wir verlernt haben, was jüdisches Leben ist. Das gilt auch für den Sabbat: Wüssten wir mehr davon, würden wir ihn auch mehr respektieren, aber das ist uns fremd und dann heißt es schnell ‚was wollen die denn da‘? Anstatt gerade als Christen zu sagen, wie wunderbar, dass es den Sabbat gibt, dieses Gebot Gottes, dass wir uns an einem Tag unterbrechen lassen und nicht arbeiten müssen.

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Bischof Jeremias © Annette Klinkhardt

Das können wir nur besser machen, indem wir im Gespräch sind, uns gegenseitig besuchen. Auch den jüdischen Festkalender können wir hier kennenlernen, wenn wir in der Synagoge sind. Das sind die Feste, die in unserer Bibel ständig vorkommen. In der Synagoge können wir sehen, wie eine Laubhütte aussieht oder wie man Pessach feiert.

DDR hat sich wenig mit Vergangenheit beschäftigt

Yuriy Kadnykov: Die Vorurteile kommen eher von mangelnder Kenntnis als dass die Menschen böse sind. Zum Beispiel gibt es das Gesetz der Trauer im Judentum: In den ersten sieben Tagen, der shiw’a, sitzen die Angehörigen des Verstorbenen zu Hause auf dem Boden und man grüßt keinen Menschen. Ein Nachbar, dem man im Aufzug begegnet, könnte meinen, dass man unfreundlich ist, das sind solche Kleinigkeiten. Dieses „1700 Jahre jüdisches Leben“ ist eine Möglichkeit, dass es zum Austausch kommt über jüdisches Leben, jüdische Kultur.

Die Vorurteile kommen eher von mangelnder Kenntnis als dass die Menschen böse sind.

Gerade in unserem Bundesland war jüdisches Leben quasi nicht existent nach dem Nationalsozialismus. Es gab 1945 etwa 150 Gemeindemitglieder, und diese Zahl ist ganz schnell geschrumpft. Viele mussten fliehen aus der DDR, weil damals hat es angefangen mit der antiisraelischen Haltung, dem neuen Antisemitismus. Die DDR hat das nicht bekämpft. Die Führung der DDR, so meine These, kam aus dem Exil aus Skandinavien, der Sowjetunion, und natürlich waren das keine Nationalsozialisten.

Deshalb hieß es überall, wir sind ja keine Nazis, wir sind ja sauber und man musste sich nicht auseinandersetzen mit der eigenen Vergangenheit. Ganz schnell ist das umgeschlagen und man hatte andere Gegner, Israel zum Beispiel. Das erlebe ich heute noch oft bei den Älteren, die haben in ihrer Welt so gelebt, da kann man nur in Kontakt kommen und versuchen, andere Bilder zeigen.

Synagogen sind offene Häuser

Tilman Jeremias: Kontakte sind immer möglich: Es gibt den Tag der offenen Synagoge am 10. November. Ich kann einen Gottesdienst besuchen, die Synagoge ist ein offenes Haus. Natürlich muss sie geschützt werden bedauerlicherweise und noch stärker nach Halle, aber ich kann hier immer Leute treffen und darf den Gottesdienst besuchen. Es ist möglich, mich zu informieren und Jüdinnen und Juden kennenzulernen.

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Die Rostocker Synagoge wurde durch die Nazis 1938 zerstört. Erst seit den 90er Jahren gibt es in Rostock wieder eine jüdische Gemeinde, die seitdem stetig gewachsen ist und heute etwa 1400 Mitglieder zählt. © Annette Klinkhardt

Yuriy Kadnykov: Uns können einzelne und Gruppen besuchen. Gruppen sollten sich anmelden, damit wir wissen, ob Studenten kommen oder eine Schulklasse.

Tilman Jeremias: Wir haben das große Glück mit dem Landesrabbiner, dass er fließend Russisch und Hebräisch spricht und auch im Gottesdienst immer zwischen drei Sprachen hin und herspringt.

Mehrsprachige Gottesdienste 

Yuriy Kadnykov: Wenn man es das erste Mal erlebt, ist es vielleicht noch etwas ungewohnt,  aber wenn man die Abläufe kennt – dieser Psalm wird auf Russisch gelesen, kann man parallel im Gebetsbuch auf Deutsch lesen. Jetzt mit Corona ist das natürlich alles etwas schwieriger. Aber es ist auch sonst für Menschen eine gewisse Herausforderung, eine Synagoge zu besuchen, obwohl wir eine Politik der offenen Tür pflegen, die Menschen sind immer willkommen beim Gottesdienst.

Tilman Jeremias: Wo man das Judentum wunderbar kennenlernen kann, ist die jüdische Kultur. Deswegen bin ich dankbar für die jüdischen Kulturtage, die es jetzt in Rostock gibt mit jüdischer Musik, Theaterspielen, Literatur, da gibt es so eine reiche Tradition. Aber auch hier in der Gemeinde, dass die Kinder von klein auf Musik kennenlernen. Und es kommen große Künstler her.

Schach war ein jüdischer Sport und hilft gut, sich zu konzentrieren.

Yuriy Kadnykov: Nicht nur das, wir haben auch den Schachclub Makkabi Rostock, weil im Schach konnte man auch als Jude in der Sowjetunion präsent sein, Schach war ein jüdischer Sport und hilft gut, sich zu konzentrieren. Dieser Makkabi ist ganz bekannt in unserem Bundesland und darüber hinaus – wenn solche Turniere stattfinden. 2004 hat die Gemeinde das Haus von der Stadt bekommen und sofort angefangen, Aktivitäten für Kinder und Jugendliche anzubieten. Nicht nur für Gemeindeglieder, sondern für alle, es kommen viele zu unseren Malkursen oder Russischkursen, und auch Kinder zu unserer Sonntagsschule.

Unser Ziel: eine lebendige Gemeinde

Die Gemeinde ist jetzt mehr als 25 Jahre hier. Leider haben auch wir in unserem Bundesland das Problem, dass viele junge Leute wegziehen, aber einige kommen zurück nach dem Studium oder studieren beispielsweise in Greifswald Medizin. Wir haben in unserem Bundesland zwei jüdische Unternehmen, viele unserer Gemeindeglieder arbeiten in Betrieben.

Unser Ziel war und ist es, eine lebendige Gemeinde zu schaffen, dass die Menschen sich als Juden positiv wahrnehmen, und es nicht als Stigma erleben wie in der Sowjetunion, wo der Stempel ‚Jude‘ im Pass bestimmte Studiengänge oder Berufslaufbahnen verhinderte.

Jüdisches Leben in MV

Die jüdische Gemeinde in MV hat heute etwa 1200 Gemeindeglieder, die vor allem in Rostock, Schwerin und Wismar leben. 95 Prozent stammen aus der ehemaligen Sowjetunion. Fünf Prozent sind deutschsprachige Juden und Israelis. 

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