Bischöfin Kirsten Fehrs: "Die Hälfte der Kirche gehört den Kindern"
22. April 2022
Hamburgs erste Kinderkathedrale wird am Sonntag, 24. April, in einem Gottesdienst mit Bischöfin Kirsten Fehrs offiziell eröffnet. Im Interview spricht die Bischöfin mit uns über ihre bewegenden Begegnungen mit Kindern und Jugendlichen während der Corona-Pandemie, darüber was für die Zukunft der Kirche wichtig ist und wie der Glaube Trost spenden kann.
Am Sonntag werden Sie in einem Festgottesdienst in Bramfeld die "Kinderkathedrale" in der Simeonkirche einweihen. Was ist das genau?
Stellen Sie sich eine Kirche vor, die zur Hälfte ausgeräumt ist. An unterschiedlichen Erzählstationen werden den Kindern interaktiv biblische Geschichten erzählt, immer passend zum Kirchenkalender. Kurz vor Weihnachten habe ich dort die Geschichte der Heiligen Drei Könige erzählt bekommen. Auf die Frage, was diese wohl dem Jesuskind mitgebracht haben, kam als Antwort „wahrscheinlich ein Bett“ oder „einen Freund“. Das sind Antworten, die nur Kinder in dieser Welt geben können. Mich hat das berührt, wie sie sich sofort willkommen gefühlt haben in dieser Kinderkathedrale mit ganz viel Platz. Es ist ihr Haus. Und für die Erwachsenen ist es eine Offenbarung.
Was ist das Besondere an dieser Idee?
Die Kinderkathedrale ist so viel mehr als eine Kinderecke, denn die Hälfte der Kirche gehört den Kindern. Da geht es um die Würde der Kleinen. Das ist doch revolutionär! Und für mich hat es große Symbolkraft, dass wir den Raum auch im übertragenen Sinn öffnen. Für die Zukunft dieser Kirche brauchen wir mehr inneres Spiel: Welche Themen bewegen die Menschen? Zu welcher Erzählstation gehen sie? Gehen sie zur Krippe oder gehen sie zum Kreuz? Das ist wichtig wahrzunehmen, um darauf reagieren zu können und den Menschen zur Seite zu stehen.
An wen richtet sich das Angebot?
In erster Linie an Schulklassen. Die beiden Pastorinnen haben mit ihrem Angebot einen Nerv getroffen, das zeigen die vielen Anfragen. Die Kinder kommen in Bewegung, dürfen wieder im Spiel die Welt entdecken. Das war ja zwei Jahre lang wirklich kaum möglich. Wenn es in dieser Pandemie etwas bedurft hatte, dann so ein Angebot.
Welche Erfahrungen hat die Gemeinde bisher gemacht?
Die Erfahrungen waren absolut positiv. Für die Gemeinde ist dieser neue Blick auf die biblischen Geschichten und deren Weisheit für unsere heutige Welt richtig belebend. Denn es wurde auf einmal allen klar, wie sehr sich die eigene Lebensgeschichte und die Suche nach Trost und Licht mit diesen alten Worten verbinden - gerade in diesen Tagen.
Sie haben in der Corona-Krise ganz bewusst Begegnungen mit jungen Menschen gesucht. Was haben Sie dabei erlebt?
Bei meiner Begegnung mit Schulsprechern und Teamern habe ich erfahren, wie unglaublich groß die Not der jungen Menschen ist, diese Krise zu verarbeiten. Von den Kindern zu hören, dass viele beim Online-Unterricht, ohne direkten Kontakt zu Mitschülern und Freundinnen, innerlich abgeschaltet haben und in eine Depression gerutscht sind – das hat mich schon erschreckt.
Raum für leichtes Spiel
Und klar wurde mir bei diesem Austausch auch: Die Kinder und Jugendlichen sehnen sich stark nach ein paar Wochen Unbeschwertheit. Ohne dass schon die nächste Krise auftaucht. Und das finde ich völlig verständlich. Deshalb ist auch die Kinderkathedrale so wichtig: Dort ist Raum für leichtes Spiel und Entlastung für die Seele.
Nun stecken wir mit dem Krieg in der Ukraine ja mitten drin in der nächsten Krise...
Dass ein Krieg dieser Art, der so dicht an uns heran rückt, je wieder stattfinden würde, haben wir alle nicht geglaubt. Das macht fassungslos. Fassungslos, wie brutal und zerstörerisch dieser Krieg ist. Die Bilder von Flüchtenden, Verletzten und Getöteten sind kaum auszuhalten. Und wie viel schlimmer muss es für die Menschen vor Ort sein?
Das alles macht große Angst, gerade auch Kinder und Jugendliche brauchen Erklärungen, brauchen Trost und eine Hoffnung, die über das hinausgeht, was aktuell passiert. Uns als Erwachsenen muss klar sein, dass dieser Krieg wirklich gefährlich ist. Gleichzeitig brauchen die Kinder und Jugendlichen uns, die wir deutlich zeigen: Die Angst, die wir natürlich haben, darf uns nicht bestimmen. Sie darf nicht über das dominieren, was uns sonst im Leben wichtig ist.
Was kann Kirche jetzt tun, um zu helfen?
Zuallererst ist die Hilfe für Geflüchtete wichtig, also humanitäre Hilfe, wo immer es geht. Da leisten die evangelischen Kirchengemeinden im Moment sagenhaft viel im Verbund mit den Menschen in den Stadtteilen und in den Dörfern. Sachspenden, Geldspenden, Hilfe vor Ort – es ist eine Gemeinschaftsaktion, wie ich sie selten zuvor gesehen habe.
Für mich ist das eine wirklich beeindruckende Geste eines Landes, in dem viele Menschen am eigenen Leib erfahren haben, wie zerstörerisch Krieg sein kann. Meine Eltern waren Kriegsflüchtlinge. Wir Kinder sind damals mit dem Wissen aufgewachsen, dass Krieg die totale Vernichtung von Leben bedeutet.
Daher ist es mir auch so wichtig, darauf hinzuweisen: Lasst uns alles tun, was in unserer Macht steht, um diesem Krieg mit friedlichen Mitteln Einhalt zu gebieten.
Wie soll das gehen?
Das ist ein Dilemma: Wir merken, dass die Gesprächsebene ausgereizt ist. Was also ist das Schlimmste und was das weniger Schlimme? Was trägt am meisten zur Deeskalation bei? Diesen tiefen Gewissenskonflikt spüren nicht nur wir, sondern auch Politiker und alle Menschen, die aktuell an unterschiedlichen Stellen weitreichende Entscheidungen treffen müssen. Diesen Gewissenskonflikt müssen wir als Gesellschaft miteinander tragen, das lässt sich nicht an Einzelne delegieren. Denn egal was wir tun oder lassen – wir werden auch schuldig werden. Das ist die echte und schwere Herausforderung in dieser Zeit.
Wie kann Kirche Trost spenden?
Wir glauben an einen Christus, der ein Mitleidender ist. Er kennt Leiden und Tod – und auch die Ohnmacht, solcher Brutalität ausgesetzt zu sein. Ich bin fest überzeugt, dass die alten religiösen Bilder – also Kreuz und Auferstehung – Trost spenden können. Und dass es eine Heimat gibt bei Gott. Auch für die Liebsten, die man in diesem Krieg verloren hat. Es gibt über das gelebte Leben hinaus ein „Ja“ zum Menschen. Der Tod hat eben nicht das letzte Wort.
Frieden stiften bleibt vorrangigste Aufgabe
Aus diesem Grund dürfen wir auch das Friedensgebet niemals aufgeben. Wer, wenn nicht wir, hat immer wieder davon zu reden, dass der Frieden die einzige Option ist, um ein Leben zu führen, das für alle gut ist? Frieden stiften – das ist und bleibt unsere vorrangigste Aufgabe, gerade weil die Kriegsrhetorik im Moment so dominant ist. Umso wichtiger ist es, gemeinsam für Gewaltfreiheit und Frieden einzustehen.
Welches Thema liegt Ihnen darüber hinaus derzeit am Herzen, Frau Bischöfin?
Die Seelsorge als Muttersprache der Kirche zu stärken – und das bundesweit. Nicht, dass Seelsorge nicht gelebt würde. Allein während der Flutkatastrophe im vergangenen Jahr war die Notfallseelsorge eine wesentliche Hilfe, damit die Betroffenen ihre akute Krise überstehen konnten. Kirche konnte zeigen, wo sie an der Seite der Menschen ist. Das zu intensivieren, ist unsere Aufgabe. Mehr noch: Wir sollten über den einzelnen Menschen hinaus erkennen, was einem Land auf der Seele liegt. Und das in Worte fassen, Trost spenden, Zuversicht geben. Das ist unser Ziel.
Um welche Sorgen und Probleme geht es dabei?
Es gibt eine Menge gesellschaftlicher Problematiken ebenso wie persönliche Krisen, die unsere seelsorgerliche Kompetenz herausfordern. Dazu zählt das Thema assistierter Suizid oder die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit von Leben, wie die Pandemie sie uns auf besondere Weise abverlangt hat. Ganz obenauf liegt auch die Klimakrise. Für die jungen Menschen ist das elementar. Sie haben Ideen für eine gute Zukunft und wollen gehört werden. Denn es geht nicht einfach weiter wie bisher. Der Klimawandel ist menschengemacht. Und wir sind noch lange nicht überm Berg - gerade jetzt, wo durch den Krieg in der Ukraine die Bewahrung der Schöpfung allerorten nach hinten gerückt zu sein scheint.
„Du sollst den Fremden lieben wie dich selbst“
Wesentlich wird es auch sein, dass wir bei steigenden Zahlen von Geflüchteten bei unserem biblischen „Du sollst den Fremden lieben wie dich selbst“ bleiben. Wie wir das schaffen können als gesamte Gesellschaft, ist eine Herausforderung, der wir uns als Kirche stellen.
Welche Folgen hat die Pandemie für die Kirche?
Wir haben in den zurückliegenden zwei Jahren einige unserer kirchlichen Formen überprüft, verworfen und neue ausprobiert. Selbstverständlichkeiten wurden unterbrochen. Gemeinden mussten sich vergewissern: Was ist wichtig, was geht wie? Richtig gut waren wir immer da, wo wir uns bewegt haben: hin zu den Menschen, hinein in die Kommunikation. Vor allem im digitalen Bereich haben wir eine Menge gelernt, was unbedingt bleiben muss. Die Chatseelsorge der Jungen Nordkirche zum Beispiel. Oder Gottesdienste, die das Medium Internet kreativ nutzen und eine neue Form von Begegnung und Beziehung ermöglichen. Die Pandemie mit ihren Begrenzungen hat uns auch gelehrt, dass kurze Veranstaltungen nicht unbedingt schlecht sein müssen.
Neue Wege: Segen-to-go“ mit dem Lastenfahrrad
Und ich denke an die Pastorin, die das Team eines Altenheims besucht, an den Pastor, der mit Menschen aus seiner Gemeinde telefoniert oder einen „Segen-to-go“ mit dem Lastenfahrrad verteilt, an die Kirchenmusikerin, die mit viel Kreativität ihren Chor zusammenhält. Überall in unserer Kirche wurden segensreiche Ideen entwickelt. Wir sind während der Pandemie für viele Menschen krisenbegleitende Kirche gewesen.
Gleichzeitig erleben wir Spaltungstendenzen, die sich vertieft haben. Da sind wir als Gesellschaft und auch als Kirche herausgefordert. Stärker als bisher werden wir auf die achten müssen, die keinen starken Stand haben. Die unter Kinder- oder auch unter Altersarmut leiden. Die Einsamen und Vernachlässigten. Für sie weiter laut und deutlich die Stimme zu erheben - das ist eine unserer vorrangigen Aufgaben als Institution.
Worauf freuen Sie sich besonders?
Ich persönlich freue mich sehr auf die ganz traditionellen Elemente eines Gottesdienstes, zum Beispiel, dass der Chor wieder singen und eine Lesung länger dauern darf. Das Erleben wird wieder dreidimensional. Glaube hat sehr viel mit Schwingungen zu tun, mit dem Gefühl, geborgen zu sein, immer eine Heimat zu haben bei Gott. Dies vermittelt sich sehr intensiv über die Gemeinschaft. Das gemeinsame Singen und Beten und auch das tröstliche Licht sind dabei ganz wichtig. Es ist diese Aussicht, die wir innerlich brauchen, um hoffen zu können.
Vielen Dank für das Gespräch.