Alltag einer Pflegefamilie

"Jedes Kind hat es zu 100 Prozent verdient, geliebt zu werden"

Die Zeichnung ihrer Tochter zeigt eine fröhliche Familie. Dass eines der Kinder erst im Alter von 14 Monaten dazukam, spielt für die Liebe, die sie zu geben hat, keine Rolle, sagt Pflegemutter Anja Menzer-Tews.
Die Zeichnung ihrer Tochter zeigt eine fröhliche Familie. Dass eines der Kinder erst im Alter von 14 Monaten dazukam, spielt für die Liebe, die sie zu geben hat, keine Rolle, sagt Pflegemutter Anja Menzer-Tews. © Annette Klinkhardt, Nordkirche

22. Dezember 2020 von Annette Klinkhardt

Die Sorge, dass das Kind, das du liebst, nicht für immer bei dir bleibt, kennt Anja Menzer-Tews gut. Sie ist Pflegemutter. Es ist eine Aufgabe, die sie mit Hingabe erfüllt – trotz aller Schwierigkeiten. Hier erzählt sie, was ihr Kraft und Hoffnung gibt.

Überall in dem Tutower Häuschen finden sich Spuren der Liebe: Ein selbstgebastelter Adventskalender in Form eines Engels auf dem Flurschränkchen. An der Wand zahlreiche Fotos, neben der Wohnzimmertür ein Porträt der Familie, das die älteste Tochter Clara gezeichnet hat. Dazwischen Töpfer- und Bastelarbeiten von Naschi (Spitzname, Anmerkung der Redaktion), dem jüngsten Kind der Familie Menzer-Tews. Im Unterschied zu ihren beiden heute erwachsenen Geschwistern kam sie erst mit 14 Monaten in die Familie.

Wunsch nach großer Familie

Zu diesem Zeitpunkt war Anja Menzer-Tews Mitte 30. Sie hatte bereits einen 19-jährigen Sohn und eine 13-jährige Tochter und nach einer stillen Geburt erfahren, dass sie keine eigenen Kinder mehr haben könnte. "Vom Verstand her dachte ich, du hast doch zwei Kinder, nun lass es gut sein. Aber dieses kleine Teufelchen im Kopf hat immer weiter gehämmert, und irgendwann saß ich abends bei einer Pamperswerbung und musste nur noch weinen. Da hat mein Mann gesagt, jetzt müssen wir etwas unternehmen." 

So bewarben sie sich im Februar 2014 beim Jugendamt als Pflegefamilie. Bereits im April klingelte ihr Handy, am Telefon eine Mitarbeiterin des Jugendamts: "Die sagte zu mir: Wir haben jetzt ein Kind, wir können Ihnen nicht sagen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. Sie müssen jetzt Ja oder Nein sagen", erzählt die Anja Menzer-Tews. Nicht einmal ihren Mann Ronald habe sie vor der Entscheidung anrufen dürfen.

Vergangenheit bleibt unklar

Bereits am nächsten Tag fuhren sie los, mit ausgeliehenem Kindersitz auf der Rückbank. "Und dann saß sie da, und dann war sie unser Kind!", fasst Anja Menzer-Tews den Moment zusammen, den sie als "ganz unwirklich" erlebt hat. Sie blättert im Fotoalbum, das ihre jüngste Tochter liebt und dessen Seiten vom vielen Benutzen schon etwas zerfleddert sind. "Ich könnte immer wieder weinen, wenn ich daran denke, weil es mir auch für die Kleine so leidtut. Da kommen zwei wildfremde Menschen, packen dich ins Auto und fahren mit dir los. Was für ein Schock!"

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Anja Menzer-Tews wurde mit Mitte 30 Pflegemutter. Der erste Kontakt mit ihrer Pflegetochter empfand sie als unwirklich – auch, weil vom Anruf des Jugendamts bis zur Aufnahme des Kindes kaum ein Tag verging. © Annette Klinkhardt, Nordkirche

Ihr Pflegekind war damals vierzehn Monate alt und wog gerade einmal sieben Kilogramm. Ihre leibliche Mutter ist psychisch krank, und ihr Vater obdachlos. Was genau ihre Tochter in ihren ersten Lebensmonaten erlebt hat, werden die Menzer-Tews allerdings nie erfahren, aus Datenschutzgründen – wie so viele Pflegeeltern, die ihren Kindern helfen wollen, dass die Wunden heilen, ohne deren genaues Schicksal zu kennen.

Seelische Wunden werden sichtbar

"Sie hat nicht gesprochen, sie hat jede Nacht ihr Bettzeug durchgeschwitzt und sich blutig gebissen, und sie war ganz in ihrer Welt gefangen", erzählt die Anja Menzer-Tews über die erste Zeit. "Sie war auch ganz viel krank. Es war, als ob ihre ganze Kraft für das erste Lebensjahr gereicht hat, und dann hat sie gemerkt, ich bin in Sicherheit, jetzt kann ich loslassen." Auf den Fotos im Album ist ein Baby zu sehen, das ernst und fragend in die Welt schaut mit großen, blauen Augen im schmalen Gesicht.

Für uns war es ein Glückstag, dass sie zu uns kommen durfte

Naschis Ankunft in der Familie war am 10. April. Diesen Tag feiern sie jedes Jahr als "Nachhausekommtag". Sie haben dafür eine Kerze gebastelt, es gibt kleine Geschenke und Kuchen. "Das ist immer ein ganz besonderer Tag. Weil es für uns so ein Glückstag war, dass sie zu uns kommen durfte und wir hoffen, dass es das auch für unsere Kleine ist."

Kinder sind Gottes Geschenk

Die hat ihre ganz eigene Erklärung dafür, dass sie zwei paar Elternpaare hat, erzählt Anja Menzer-Tews: "Irgendwann hat sie zu mir gesagt, als sie schon wusste, dass ich ein Kind verloren habe: Mama, weißt du, ich glaube, der liebe Gott wusste nicht, wie ich runterkommen soll, weil dein Bauch ja kaputt ist. Und dann hat er mich zu Mama Nina (Namen der leiblichen Eltern geändert, Anmerkung der Redaktion) reingesetzt und so bin ich runtergekommen."

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Selbst Getöpfertes zu Weihnachten: Heute ist Naschi ein aufgewecktes Kind, das gern spielt und bastelt. Doch der Anfang in der neuen Umgebung war schwer, erinnert sich ihre Pflegemutter. © Annette Klinkhardt, Nordkirche

An einen liebenden Gott glauben auch Anja und Ronald. Beide haben als Jugendliche über die Christenlehre und Angebote der evangelischen Jugend zur Kirche gefunden. Ihre ältere Tochter macht gerade eine Ausbildung zur Heilerzieherin an einer evangelischen Schule. Und so kann Anja die umfassende Liebe, die sie zu ihrer Tochter empfindet, die sie nicht im Bauch getragen hat, als Gottesgeschenk sehen: "Ich glaube, diese Kinder haben das von Gott gegeben. Naschi saß da, und sie tat mir einfach nur leid. Ich dachte, du armes Wesen. Sie konnte so ein bisschen tapsen, und wenn sie ihre Hände in meine legte, ging mein Herz auf."

Liebe ist die Basis 

Begeistert beschreibt sie jeden kleinen Entwicklungsschritt, der für Naschi herausfordernder war, als für andere Kinder: Sprechen lernen, Fahrrad fahren. "Naschi macht uns das leicht, weil sie so ein toller Mensch ist, sie ist so ein Sonnenschein. Die Ergotherapeutin hat gerade noch zu mir gesagt, dass sie immer Menschen in ihrem Leben hat, die sie mögen, weil sie so eine freundliche Art hat. Und dass sie dann auch gerne ihr auch manchmal anstrengendes Wesen ertragen."

Liebe zu den Kindern als Quelle der Kraft, das ist das, was sie immer wieder auch von anderen Pflegeeltern hört: "Eine Bekannte hat mir gerade erzählt, dass ihre fünfjährige Pflegetochter gerade aus Zorn ihr Zimmer zerlegt hat. Der andere Pflegesohn nässt überall ein. Sie hat beim Jugendamt diverse Anträge gestellt wegen Matratzen, aber noch keinen Cent bekommen, weil immer irgendwas nicht richtig ist bei der Antragstellung", beschreibt sie den mühseligen Alltag vieler Pflegeeltern. "Dann habe ich sie gefragt, was ihr denn Hoffnung gebe. Die Antwort war: Das ist die Liebe zu den Kindern. Ich sehe sie an, und weiß in meinem Herzen, die wollen ja gar nicht so sein, und ich liebe sie einfach."

Feste Rituale geben Halt

Wichtig gerade für Pflegekinder seien ein verlässlicher Tagesablauf und feste Rituale, erzählt Anja Menzer-Tews: "Ich singe ihr seit fast sieben Jahren zum Einschlafen die gleichen drei Lieder – `Lalelu‘‚ ‚Weißt du, wie viel Sternlein stehen‘ und ‚Der Mond ist aufgegangen‘. Und jeden Abend muss mein Mann ihr einen Segen geben. Egal, wo der auf der Welt ist, dann gibt’s eben einen Videoanruf." Schlafen kann Naschi nur, wenn der alte Kuschelpullover von Papa Ronald und ihr zerliebter Löwe dabei sind.

Sie soll einfach eine schöne Kindheit haben

Ein Pflegekind zu lieben, ist eine Gratwanderung – kann das Kind doch jederzeit aus der Familie herausgenommen und wieder zu den leiblichen Eltern zurückgeschickt werden, wenn das Jugendamt den Eindruck hat, dass die stabil genug und die Bedingungen für das Kind in Ordnung sind. "Mir wurde vorher gesagt, schützen Sie sich. Da habe ich geantwortet, dann nehme ich kein Kind. Jedes Kind hat es verdient, zu 100 Prozent geliebt zu werden, egal ob es jetzt in meinem Bauch war oder nicht. Das ist für unsere Familie wichtig. Sie soll einfach schöne Kindheit haben."

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Feste Rituale müssen sein: Naschi braucht ihren Schnuffelpullover und Kuschellöwen zum Einschlafen. © Annette Klinkhardt, Nordkirche

Dennoch kam die Angst davor, dass ihre geliebte Tochter sie von einem Tag auf den anderen wieder verlassen müsste, in Wellen. Wieder einmal lag Anja Menzer-Tews nachts mit klopfendem Herzen wach: "Da habe ich mir gedacht: Anja, du wolltest ein Kind, das hast du jetzt. Sei darüber glücklich und geh den Weg, solange er dir gewährt wird und hab einfach Freude mit ihr.  Oder du zerbrichst daran. Das war auch so eine Zwiesprache mit Gott, die mir letztlich Ruhe gegeben hat."

Zwiespältige Gefühle

Solche Gedanken oder Durchhänger darf sie als Pflegemutter nicht zeigen: "Alle Pflegekinder machen sich Gedanken, was mit ihren Eltern los ist, warum haben die mich weggeben, warum ist Mama einmal so und einmal so. Die haben ja schon ihren Rucksack, und wenn wir jetzt auch noch anfangen und rumzicken würden, das wäre ja katastrophal für das Kind." Ihre leiblichen Eltern sieht Naschi regulär alle 14 Tage. Für die Pflegemutter ein zweischneidiges Schwert: Auf der einen Seite wünscht sie ihrem Kind gute Kontakte zu Mama Nina und Papa Timo. Doch muss sie sich zurücknehmen, wenn sie wieder einmal mit deren Lieblosigkeit konfrontiert wird. So hat sich der Vater seit August nicht mehr bei seiner Tochter gemeldet.

Unterstützung vom Jugendamt erwartet Anja Menzer-Tews dabei nicht. Da geht es ihr wie vielen Pflegeeltern, mit denen sie Kontakt hat. "Ganz viele Familien mit Pflegekindern fühlen sich alleine gelassen. Jetzt in der Coronazeit ist das besonders schlimm. Es gibt Familien, die haben vier Pflegekinder, und jedes hat einen Riesenrucksack zu tragen. Im normalen Leben gehen die in die Schule, in den Sportverein und sind ausgepowert. Auf einmal sitzen die nun alle aufeinander, und dann knallt‘s einfach an allen Ecken. Da hat keiner vom Jugendamt mal nachgefragt. Es kam ein Brief, in dem stand, was sie mit den Kindern basteln können."

Wir sind doch keine Feinde des Jugendamts

Unterstützung bekämen sie lediglich von der Caritas im Landkreis, die begleitende, hilfreiche Kurse und Gespräche anbiete Das, was Pflegeeltern täglich leisten, werde selten von der Gesellschaft oder den Ämtern gesehen, bedauert Anja Menzer-Tews. "Wir haben so dafür kämpfen müssen, einen Lernbegleiter für unsere Tochter zu bekommen. Das kommt vielen Pflegeeltern vor wie ein Kampf gegen Windmühlen: Wir müssen uns immer beweisen und erklären. Dass wir Pflegeeltern sind, ist wie so ein Stigma. Dabei sind wir doch keine Feinde des Jugendamtes, wir arbeiten doch mit ihm zusammen, wir übernehmen auch deren Arbeit."

Diese "Arbeit" fasst Anja Menzer-Tews so zusammen: "Wir wollen einfach diesen elenden Kreislauf durchbrechen, der sich in manchen Familien schon durch Generationen zieht. Unsere Hoffnung ist, dass wir Menschen erziehen, die mit beiden Beinen im Leben stehen und glücklich sind."

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