Seelsorge am Lebensende

So bewahrt eine Sterbebegleiterin Lebensgeschichten vor dem Vergessenwerden

Sabrina Görlitz ist eine Geschichtensammlerin. Indem sie die Erzählungen Todkranker aufschreibt, schafft sie bleibende Erinnerungen.
Sabrina Görlitz ist eine Geschichtensammlerin. Indem sie die Erzählungen Todkranker aufschreibt, schafft sie bleibende Erinnerungen. © epd

20. November 2021 von Imke Plesch

Was bleibt von einem nach dem Tod? Um Sterbenden zu helfen, schreibt Sabrina Görlitz auf der Palliativstation der Hamburger Asklepios Klinik St. Georg die Lebensgeschichte der Patienten auf. Sie schafft damit etwas Dauerhaftes, das sowohl die Todkranken als auch die Angehörigen tröstet.

An einen Mann erinnert sich Sabrina Görlitz besonders: Er war Mitte 40 und unheilbar an einer Leberzirrhose erkrankt. Er hatte vermutlich nur noch wenige Tage zu leben, als Görlitz zu ihm gerufen wurde, auf die Palliativstation der Asklepios Klinik St. Georg im Zentrum von Hamburg. „Es ging ihm körperlich und seelisch sehr schlecht. Vor allem plagten ihn Schuldgefühle gegenüber seinem zehnjährigen Sohn“, erzählt Görlitz.

Die Geschichtenpflegerin bewahrt Erinnerungen

Die 41-Jährige nennt sich selbst „Geschichtenpflegerin“, ihre Arbeit „Story Care“. Auf der Palliativstation in St. Georg erzählen ihr Menschen im Angesicht des Todes, was das Leben für sie ausgemacht hat oder was sie gerne noch an ihre Kinder, Partner oder Freunde weitergeben möchten.

„Im Gespräch mit mir können sie eine Pause machen von ihrem Alltag als kranker Mensch, der oft dominiert ist von dem, was der Mensch nicht mehr kann.“ Viele Menschen hätten in dieser Phase das Gefühl, sich aufzulösen, erzählt Görlitz. „Sie fragen sich: Was bleibt von mir? Die Idee meiner Arbeit ist, an die Persönlichkeit des Menschen zu erinnern.“

Stories sind Anker für die Hinterbliebenen

Nach dem Anruf der Station und einem Kennenlerngespräch setzt sich die Geschichtenpflegerin mit ihrem Aufnahmegerät ans Bett des sterbenden Menschen. So war es auch bei dem Mittvierziger mit dem zehnjährigen Sohn. Einige Jahre zuvor war seine Frau ganz plötzlich gestorben und vor lauter Schmerz hatte er angefangen zu trinken. Jetzt lag er selbst im Sterben und wollte seinem Sohn erklären, wie es dazu kommen konnte, dass er ihn nun auch noch alleine lassen musste - und ihm positive Erinnerungen an gemeinsame Erfahrungen mitgeben.

Görlitz hat Journalismus und Medienkommunikation studiert. Ende 2018 machte sie eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin. Einige Monate später begann sie zunächst ehrenamtlich auf der Palliativstation der Asklepios Klinik zu arbeiten. „Mir war früh klar, dass ich diese Tätigkeit mit meiner Liebe für das Schreiben verbinden wollte.“

Sie nimmt eine Last

Bei der Deutschen Gesellschaft für Patientenwürde (Mainz) machte sie eine Weiterbildung in „Würdezentrierter Therapie“, die auf den kanadischen Palliativpsychologen Harvey Max Chochinov zurückgeht. Seit Dezember 2020 ist die Mutter eines Sohnes als externe Honorarkraft fester Bestandteil des Teams der Palliativstation.

„Ich bin begeistert von Sabrina“, sagt Chefarzt Markus Faust. „Menschen, die spüren, dass sie bald sterben werden, sind oft sehr unruhig, wirken getrieben, bewegen sich viel oder sind innerlich angespannt.“ Nach den Gesprächen mit Görlitz stelle er bei allen Patienten einen positiven Effekt fest: Sie seien entspannter und ruhiger. „Sabrina nimmt ihnen eine Last ab.“ Ihre Arbeit sei eine sehr gute Ergänzung des palliativmedizinischen Angebotes auf der Station.

Wenn die Menschen alles ihnen Wichtige erzählt haben, schreibt Sabrina Görlitz das aufgezeichnete Gespräch zuhause auf. „Die Worte bleiben diejenigen des Erzählers, das ist mir ganz wichtig.“ Wenige Tage später fährt sie erneut in die Klinik und liest den Menschen deren eigene Geschichte vor. „Das ist nochmal ein ganz berührender Moment. Ein Mann sagte mir einmal, er habe jetzt das Gefühl, sein Leben war wirklich wahr.“

In Würde sterben

Den fertigen Text übergibt sie den Menschen in einer Mappe mit einem individuell gestalteten Deckblatt: „So sind die Worte für den Tod nicht mehr zu erreichen.“ Sie bleiben bestehen, auch wenn der Mensch gestorben ist.

Manche Menschen möchten ihren Angehörigen noch etwas Konkretes mitteilen - so wie die alte Frau, die ihren Enkeln sinnbildlich einen Rucksack mit Ratschlägen packte. Andere möchten sich nochmal gemeinsam mit jemandem an die schönen Zeiten in ihrem Leben erinnern: Etwa der Mann, der mit 50 Jahren endlich an seinen Sehnsuchtsort Hawaii gereist war oder ein anderer, der nochmal jemandem von seinen wilden Zeiten als Lebemann auf dem Kiez erzählen wollte.

Innere Unruhe lässt nach

Während die „Würdezentrierte Therapie“ in ihrem Selbstverständnis eine psychologische Kurzintervention darstellt, setzt Görlitz in ihrer Arbeit vor allem auf die Kraft des Geschichtenerzählens. „Das Geschichtenerzählen ist so alt wie die Menschheit“, sagt sie. Es schaffe Verbindung und echte Begegnung und habe nachweisbar einen beruhigenden Einfluss auf das Nervensystem. „Wer die Geschichte seines Lebens dann in Form dieser Mappe in der Hand hält, kann es leichter loslassen.“

Faust und Görlitz wünschen sich, dass möglichst viele Kliniken und Hospize in Deutschland die Idee der „Geschichtenpflege“ aufnehmen. Sie planen für 2022, selbst eine „Story-Care-Akademie“ oder zumindest ein Netzwerk aufzubauen. Bislang würden in Deutschland nur vereinzelt Therapeuten, Ehrenamtliche oder Pfleger und Pflegerinnen diese Form des Lebensgeschichte-Bewahrens anbieten, die von der „Würdezentrierten Therapie“ geprägt sei.

Der Mann mit der Leberzirrhose hat nach dem Gespräch mit Görlitz noch einige Wochen gelebt, in denen es ihm zunächst wieder deutlich besser ging und er auch noch mehrere gute Gespräche mit seinem Sohn führen konnte. Das Deckblatt der Mappe mit seiner Geschichte ziert sein Porträt in bunter Pop-Art-Optik. Das hatte er sich so gewünscht.

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